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Ohren, arm dran Von Dietrich zur Nedden

Es gibt Nachrichten, die niemand glauben will, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber vor der Wahrheit sollten wir die Augen nicht verschließen. Die Ohren sind sowieso arm dran. Denen ist es unmöglich, sich selbst zu verweigern, die kann man nur zuhalten. Aber die Hände gehören ans Lenkrad, und freihändig radfahren ist verdammt gefährlich.

Wer seit vergangener Woche zum falschen Zeitpunkt an der Aegidienkirche in Hannover vorbeifährt, möchte seinen Wascheln nicht trauen, aber es ist schon so: Die 25 Bronzeglocken oben im Turm spielen freitags um 15 Uhr den Super-Welthit „Wind of Change“ der hannoverschen Super-„Rock“-Band Scorpions. Der bei der Einweihung anwesende Superintendent fand anläßlich der Inbetriebnahme die richtigen Worte: „Das Lied spricht vom Wind, der der Erstarrung entgegenbläst und den Frieden schafft.“ (Und wenn's doch nicht hilft, hilft bestimmt ein Arzt.)

Abgesehen davon, daß schätzungsweise drei bis fünf Glocken für eine angemessenen Coverversion gereicht hätten, muß für Ortsunkundige hinzugefügt werden, daß die Aegidienkirche seit einem Bombenangriff anno 45 keine Kirche in dem Sinne mehr ist, sondern nur noch Ruine und also Freiluft- Gedenkstätte für die Opfer – der Einfachheit halber – aller Kriege.

„Unseren Toten“ steht auf einer in den Boden eingefügten Steinplatte im obdach- und fensterlosen Altarraum. Da ließen sich Klaus Meine, Sänger, und Rudolf Schenker, Gitarrist, nicht lange bitten, ihrem Stolz darüber Ausdruck zu geben, daß „ein Stück aus der jüngsten Rockgeschichte“ für würdig befunden wurde, gelegentlich die Stadt der Expo 2000 zu beschallen. Als Mahnung und Tarnung und vor allem Warnung.

Chapeau vor den „Musikern“, die leider bei der ersten Kontaktaufnahme die Erwähnung „Glocken“ völlig falsch interpretiert hatten. Statt des erwarteten persönlichen Service, geleistet von zahllosen Pamela-artigen Groupies, handelte es sich bei dem Vorhaben tatsächlich um ihren Trottelpop, der in Kirchturmmusik gegossen werden sollte. Der Irrtum konnte rechtzeitig aufgeklärt werden.

Andererseits kam der den Einfall gehabt habende hannoversche Oberbürgermeister zu dem Schluß, daß das Engagement der Scorpions in der für ihre Blutrünstigkeit und Brutalität bekannten Deutschen Eiskockey-Liga kein Hindernis sei für die Choral-Wahl des Welthits.

Dennoch und in nuce passen eigentlich das Geläute und alles andere trefflich zusammen. Bekanntermaßen war neulich Joe Cocker kostenlos auf dem hannoverschen Maschsee zu hören, dürfen die Scorpions die Hymne zur Weltausstellung zusammenstoppeln, während Peter Maffay an der „Komposition“ von „Tabaluga 3“ sitzt. Auftraggeber der aufstrebenden Talente war in allen Fällen die Expo GmbH. Ja, ja, die Schwellung zum 21. Jahrhundert ist gepflastert mit Schreckensmeldungen und Horroszenarien. Jetzt erst recht.

Nur wenn Halloween auf einen Freitag den 13. fällt, wird vom Glockenturm der Aegidienkirche „Hell's bells“ von AC/DC zu hören sein. Aber das wird vielleicht niemand bemerken. Die CD zum Glockenspiel ist demnächst unisono bei Tchibo, Eduscho und beim Otto-Versand erhältlich.

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