: Was vom Spielen übrigbleibt
Keine Atempause: Geschichte wird gemacht. Auch in der Theaterwissenschaft, wo es mit Materialsammeln und Aufschreiben schon lange nicht mehr getan ist. Ein Blick auf zwei Methoden, über Theater von gestern zu sprechen und die Welt als Bühne zu betrachten ■ Von Karin Jansen
Theatergeschichte ist aus der heutigen Regiearbeit genausowenig wegzudenken wie aus den meisten Programmheften. In der inhaltlichen wie ästhetischen Interpretation stehen Inszenierungen im Spannungsfeld von Historizität und Aktualität. Das gilt teilweise sogar für das Boulevardtheater, ganz bestimmt für ein Bürgerschrecktheater à la Castorf und die eingebürgerten Rebellen Stein, Peymann und Zadek, für die Repräsentanten des bundesdeutschen Toptheaters überhaupt.
Daß Theatergeschichte verfügbar ist – darum bemüht sich die Theaterwissenschaft. Ein jüngeres universitäres Fach, das sich zwar seit einigen Jahren von seinen Mutterdisziplinen Germanistik und Geschichte zu lösen beginnt, seinen traditionellsten und scheinbar einfachsten Anwendungsbereich jedoch weiterhin pflegt.
Doch so simpel und positivistisch – Material sammeln, aufschreiben, fertig – soll und kann Theatergeschichtsschreibung nicht mehr betrieben werden. Und schon lange geht es nicht mehr nur um das Bewahren, sondern auch um wissenschaftliche Methodik und Diskussion. So bleibt die zehnbändige theaterhistorische Darstellung von Heinz Kindermann, geschrieben seit Ende der 50er bis in die 70er Jahre hinein, mit ihrer umfangreichen Materialschau bis heute die einzige ihrer Art.
Die Tendenz in der Geschichtswissenschaft, sich von der Makroebene der großen historischen Einheiten eher der mentalitätsgeschichtlichen Mikroforschung zuzuwenden, entspricht dem Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften allgemein: Jenseits museal-konservierender oder sogar ideologisch-höriger Berichterstattung hat man in der pragmatisch ausgerichteten Geisteswissenschaft nicht nur das politische Soziale und die Mentalitäten, sondern auch die Emotionalitäten und schließlich das Exotische bis hin zu den australischen Aborigines als Themen erschlossen, so auch in der Theaterwissenschaft.
Hier geht es immer um Sein und Schein
Die praktische Antwort auf die sich mehrenden Beobachtungsfelder sind Einzeldarstellungen, die auch ihre wissenschaftliche Methodik präzisieren und neue Perspektiven der theaterwissenschaftlichen Betrachtung stimulieren. Als „Konzept der Kontingenz“, zurückgehend auf Foucault, bezeichnet der Münchner Theaterwissenschaftler Hans-Peter Bayerdörfer die neue Machart der Theatergeschichtsschreibung. Das Konzept berücksichtigt die Subjektivität der WissenschaftlerInnen wie die Zufälligkeit und Indifferenz der Dinge und Ereignisse hinsichtlich ihres Seins und Nichtseins und ersetzt den vermeintlichen Objektivitätsanspruch, indem Kausalität und universale Zielgerichtetheit in Frage gestellt werden. Diese wissenschaftliche Methodik ist mit dem Gegenstand ihrer Betrachtung thematisch aufs engste verknüpft. Es ist das Thema um Sein und Schein, dem das Theater von jeher Artikulation gewährte – Calderóns „Das Leben ein Traum“ oder Shakespeare. Das Thema betrifft aber auch die Wesensart des Theaters selbst. Fiktivem zur – wenn auch nur vorübergehenden – Realität zu verhelfen.
Nicht von ungefähr bestimmt das Thema der Scheinhaftigkeit des Seins denn auch die bislang in zwei von insgesamt drei Bänden vorliegende Theaterhistorie von Manfred Brauneck, Direktor des Instituts für Theaterforschung an der Universität Hamburg. Die Theatermetapher von der „Welt als Bühne“ ist nicht bloß Titel, sondern Programm des Werkes, das sich zur Aufgabe gemacht hat, nicht nur die Sinnhaftigkeit, sondern auch die sinnliche Erfahrung von Theater und seiner Geschichte nahezubringen.
Behandelt wird die europäische Theatergeschichte von den Anfängen in der Antike bis heute, also knapp 2.500 Jahre. Chronologisch und übersichtlich nach Nationen wie Themen gegliedert, gelingt dies mit großer Anschaulichkeit. Dafür sorgen auch die reiche Bebilderung mit Gemälden, Kupferstichen, Zeichnungen sowie Fotografien und die trotz regelmäßiger Quellen- und Literaturverweise flüssig dargelegten Kenntnisse. Als Nachschlagwerk ist dieses Kompendium ebensogut geeignet wie zum Durchlesen, wenngleich letzteres einige Kondition erfordert.
Angesichts der methodischen Diskurse der Theaterwissenschaft handelt es sich um ein traditionelles, ein pragmatisches, geradezu populärwissenschaftliches Werk. Keine Fachtheorie, keine spektakuläre Geschichtsumschreibung, sondern eine Fortschreibung auf der Grundlage von Kindermanns Werk wie neuer Forschungsergebnisse. Mit offensiver Subjektivität akzentuiert, wurde das Ziel, die großen Entwicklungslinien der Theatergeschichte aufzuzeigen, dennoch nicht verfehlt.
Der das 17. und 18. Jahrhundert behandelnde zweite Band bietet nicht nur eine eingehende Auseinandersetzung mit Theaterarchitektur und -literatur, sondern zeigt auch die Konsequenzen gesellschaftlicher Veränderungen auf: wie sich das Theater mit der Ablösung des Adels durch das Bürgertum gewandelt hat, wie durch Revolution und Kriege. Darüber hinaus findet ein oft vernachlässigtes Thema ausdrücklich Beachtung: die soziale wie ästhetische Entwicklung des Schauspielerstandes.
Theater? Vor allem zählt die Theatralität
Einen ganz anders gearteten Blick auf die Geschichte des Theaters bietet eine theaterwissenschaftliche Reihe aus dem Institut für Theaterwissenschaft / Kulturelle Kommunikation der Berliner Humboldt-Universität. Schon der Name des Instituts verrät eine Programmatik, und so liegt der Reihe auch ein explizites Konzept zugrunde: Die Hauptorientierung auf die Geschichten und Theorien bedeutender Theaterkunst Europas wird als überkommen betrachtet und „ausgewählten Phänomenen allgemeiner gesellschaftlicher Theatralität“ gegenübergestellt. Ideen, die, wie eingangs gezeigt, so neu nicht sind, Makrogeschichtsschreibung ist schon lange out. Auch ist der Theatralitätsbegriff in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein alter Hut – wenn auch einer, der gern getragen wird.
Joachim Fiebach, Mitherausgeber der Reihe, Institutsleiter und an der wissenschaftsmethodischen Diskussion des Faches selbst beteiligt, reflektiert in einem Aufsatz den wissenschaftstheoretischen Rahmen der Reihe. Wegweisende Arbeiten aus den 50er und 60er Jahren unter anderem von Goffman und Plessner werden ebenso eingebracht wie der Performance-Theoretiker Schechner. Ausschlaggebend für die wissenschaftliche Ausdeutung der barocken Theatermetapher von der Welt als Bühne ist aber die Heranziehung von Kybernetik und Neurobiologie. Das Problem der Indifferenz der Welt wird zumindest theoretisch gelöst. Denn, so Fiebach, nichts spricht dagegen, daß „erfolgreiches Operieren in einer sozial gültigen und scheinbar objektiven physikalischen Welt“ möglich ist. Schein oder Sein, sie sind eins für unsere Realität.
Von Königin Luise bis zum Mister Spectator
Fiebachs „Theatralitätsstudien unter kulturhistorisch-komparatistischen Aspekten“ erörtern weiterhin das Verhältnis von Theater und Theatralität, von Theatralität und Symoblismus in der Realität anhand der Welt der europäischen Neuzeit bis hin zu unserer modernen Medienwelt.
Andere AutorInnen des Instituts greifen Themen querbeet aus der Theater- und auch Mediengeschichte auf. Ein Aufsatz zur Umstellung auf den Tonfilm vergegenwärtigt auch unsere heutigen Seh- und Hörgewohnheiten im High- Tech-Zeitalter samt dem dazugehörigen Machtfaktor Industrie. Eine Abhandlung über Königin Luise von Preußen und ihre Darstellungskünste in den Inszenierungen am Hofe (wohlgemerkt: nicht am Hoftheater!) greift den Theatralitätsbegriff auf, der „Mister Spectator“ des Moralphilosophen Adam Smith sorgt für ein weiteres Beispiel zum Thema. Dabei tut der Work-in-progress-Charakter der Attraktivität der Reihe keinen Abbruch. LeserInnen sollten mit philosophischen Kenntnissen gewappnet sein.
Manfred Brauneck: „Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters“. Verlag J.B. Metzler, 3 Bände.
Bereits erschienen: Band 1, 716 Seiten, 463 Abbildungen, 198 DM; Band 2, 1.028 Seiten, 714 Abbildungen, 258 DM
Joachim Fiebach/W. Mühl-Benninghaus (Hg.): „Spektakel der Moderne“. Band 2 der Reihe Berliner Theaterwissenschaft, Vistas Verlag, 203 Seiten, 40 DM
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