■ Mit NSDAP-Abzeichen und Hakenkreuzfahne rettete der Hamburger John Rabe Zehntausende Chinesen vor der japanischen Soldateska. Rabes kürzlich entdeckte Tagebücher beleben die Erinnerung an das Massaker von Nanking Aus Nanjing Simone Lang und Sven Hansen
: Der gute Nazi von Nanking

Als die japanische Armee 1937 Nanking eroberte, war John Rabe Siemens-Repräsentant in der damaligen Hauptstadt Chinas. Mit anderen Ausländern zusammen sorgte er für den Schutz der Zivilbevölkerung vor den Verbündeten Nazideutschlands.

Er war groß und kräftig und hatte nur wenig Haare auf dem Kopf. Wenn japanische Soldaten über die Gartenmauer kletterten, schickte er sie eigenmächtig zurück. Sie mußten das Grundstück dann wieder über die Mauer verlassen, das Tor ließ er für sie nicht öffnen.“ Voll Bewunderung erzählt Herr Wang von John Rabe, der hier Japans Soldaten trotzte. Den Hamburger Kaufmann traf der vierzigjährige Chinese allerdings nie persönlich. Von Rabe, der vor 47 Jahren starb, hörte der schmächtige Wang erstmals im Sommer. Da tauchte plötzlich ein Team des chinesischen Zentralfernsehens bei ihm zu Hause in der Xiao-Fenqiao- Straße Nr. 1 auf und machte Filmaufnahmen von Haus und Grundstück.

Mit Frau und Sohn wohnt Wang im Erdgeschoß einer heruntergekommenen grauen Villa im Zentrum der 4,6-Millionen-Einwohner-Stadt Nanjing, 300 Kilometer westlich von Shanghai. In dem zweistöckigen Altbau mit vorgebautem Windfang, das auch am Stadtrand von Berlin stehen könnte, lebte vor sechzig Jahren der Siemens-Vertreter Rabe. „Unsere Wohnung war wohl sein Empfangsraum“, sagt Wang. Eine Sperrholzwand macht aus dem Raum rechts neben dem Hauseingang eine Zweizimmerwohnung. Der massive Windfang dient den Wangs als Küche. Vier Familien leben heute im Haus, das jetzt zur angrenzenden Universität gehört, weitere elf wohnen in Schuppen und Wellblechhütten auf dem 500 Quadratmeter großen Grundstück. Nach der Präsentation der Tagebücher John Rabes vor einem Jahr „entdeckten“ chinesische Journalisten das frühere Haus des Deutschen, von dem die heutigen Bewohner bis dahin noch nie gehört hatten.

Nanking, wie die Stadt am Jangtse zu Rabes Zeiten hieß, war seit 1928 Chinas Hauptstadt. Durch Kontakte zu Regierungsstellen machte Rabe für Siemens gute Geschäfte. Nankings Kraftwerk, Krankenhaus und Polizei waren mit Technik von Siemens ausgestattet. Bei den Deutschen hieß sein Grundstück „Siemensstadt“. In einem heute nicht mehr existierenden Anbau des Hauses war das Büro der Siemens China Co., das Rabe seit 1931 leitete. In einem anderen Bau war die von ihm gegründete deutsche Schule. 1934 trat Rabe, der seit 1908 in China lebte, der NSDAP bei – vor allem, um offizielle Unterstützung für die Schule zu erhalten, wie er sagte. Zeitweilig vertrat Rabe, der Hitler friedliche Absichten unterstellte und führergläubig war, auch den Leiter der NSDAP-Ortsgruppe. Diese zählte einschließlich der deutschen Diplomaten 43 Mitglieder.

Rabes Bild vom Nationalsozialismus, den er nur aus der Ferne kannte, brachte er auf die in seinem Tagebuch notierte verquere Kurzformel: „Wir sind Soldaten der Arbeit; wir sind eine Regierung der Arbeiter, wir sind Freunde der Arbeiter, wir lassen den Arbeiter – den Armen – in der Not nicht im Stich!“ Rassistisches Gedankengut ist von Rabe nicht bekannt. Trotz seiner patriarchalischen Züge, seiner Autoritätsgläubigkeit und konservativen Ansichten galt er als eher unpolitisch.

Als nach der Einnahme Shanghais im November 1937 Japans Truppen auf Nanking vorrückten, brach unter den damals 1,3 Millionen Einwohnern Panik aus. Wer es sich leisten konnte, floh. Chinas Regierung unter Chiang Kaishek ordnete gegen den Rat seiner deutschen Militärberater die aussichtslose Verteidigung der Stadt an. Rabe am 22. November: „Es bleibt kein administrativer Beamter hier. Es opfert sich niemand für das Allgemeinwohl von Hunderttausenden von Einwohnern! Schöne Aussichten! Herrgott, wenn doch Hitler helfen wollte!“

Rabe hatte sich gegen den Wunsch von Siemens und das Drängen der abziehenden Diplomaten entschlossen, in Nanking zu bleiben. Er wollte seine chinesischen Mitarbeiter nicht im Stich lassen. Auf seinem Grundstück bot er immer mehr Menschen in Erdhöhlen Schutz vor den Luftangriffen. Um die Piloten Japans, das seit dem Anti-Komintern-Pakt vom November 1936 mit Deutschland verbündet war, von der Bombardierung seines Hauses abzuhalten, spannte Rabe in seinem Garten eine große Hakenkreuzfahne auf. Dieser Platz, so schreibt er, galt als bombensicher.

Mit knapp zwei Dutzend Ausländern, die sich zum Bleiben entschlossen hatten, gründete Rabe ein Komitee zur Einrichtung einer Sicherheitszone für die Zivilbevölkerung. Am 22. November, einen Tag vor seinem 55. Geburtstag, notierte er: „Man wählt mich zum Chairman. Mein Sträuben nützt nichts. Um der guten Sache willen gebe ich nach.“ Rabe war bei den Ausländern in Nanking anerkannt und beliebt wegen seines unerschütterlichen Humors. Und die Mitglieder des mehrheitlich aus US-Amerikanern bestehenden Komitees wußten, daß ein deutscher Hakenkreuzträger bei den Japanern die größten Aussichten hatte, Gehör zu finden. Neben Rabe waren zwei weitere NSDAP- Mitglieder im Komitee, mit denen er eng zusammenarbeitete.

Als die japanischen Truppen am 13. Dezember 1937 Nanking eroberten, hatte Rabe als Vorsitzender des Internationalen Komitees faktisch die Position eines Bürgermeisters inne. Eine funktionierende chinesische Verwaltung gab es seit Tagen nicht mehr. Dem Deutschen unterstanden sogar 500 unbewaffnete Polizisten. Als diese einen Dieb fingen, übernahm das Komitee unfreiwillig auch noch die Rolle des Gerichts. Dazu Rabe: „Wir verurteilen den Dieb zum Tode, begnadigen ihn dann zu 24 Stunden Haft und lassen ihn wegen Mangels an einem Arrestlokal dann ohne weiteres wieder laufen.“

In der knapp vier Quadratkilometer großen Sicherheitszone fanden bald 250.000 Chinesen Schutz, quasi die restliche Bevölkerung der Stadt einschließlich geflüchteter Soldaten. Rabe selbst nahm auf seinem Grundstück, das am östlichen Rand der Zone lag und inzwischen „Siemens-Lager“ genannt wurde, bis zu 650 Menschen auf. Allein in seinem Arbeitszimmer krochen über dreißig Personen unter.

Vergeblich hatte Rabe versucht, von den Japanern die Zusage zu erhalten, daß sie die Zone respektieren. In einem Telegramm, auf das er nie eine Antwort erhielt, bat er sogar Hitler persönlich um Fürsprache in Tokio. Japans Truppen verweigerten die offizielle Anerkennung der Zone, verschonten sie aber in der Praxis. Trotzdem drangen immer wieder japanische Militärs ein, um mutmaßliche ehemalige chinesische Soldaten zur Exekution abzuführen oder um Frauen zu vergewaltigen. Die Zone bot nur relative Sicherheit. Doch außerhalb massakrierten die japanischen Truppen Zehntausende. „Wohin man sieht und hört, nichts als Brutalität und Bestialität der japanischen Soldateska“, schrieb Rabe. „Verschiedentlich kommen Truppen japanischer Soldaten auch in mein Privathaus, ziehen aber bei meinem Auftreten ab, sobald ich ihnen die Hakenkreuz-Armbinde unter die Nase halte.“ Von Chinesen alarmiert, eilt Rabe von einem Übergriff der Japaner zum nächsten. „Ich brauche eigentlich meistens nur ,Deutsch‘ und ,Hitler‘ zu rufen, dann werden sie manierlich.“ Den Verweis auf Hitler hatte er erstmals bei chinesischen Soldaten ausprobiert, als diese in der Sicherheitszone ein Abwehrgeschütz aufstellen wollten. Rabe fürchtete Angriffe der Japaner auf die Zone, sollten sich darin chinesische Geschütze befinden. Die Waffen wurden aus der Zone entfernt.

Später perfektionierte Rabe seinen Auftritt mit dem Hakenkreuz. Verbunden mit energischem Auftreten funktionierte der Bluff erstaunlicherweise immer wieder. Während Rabe sogar einen Soldaten verjagen konnte, der schon die Pistole gegen ihn gezogen hatte, hatten die Japaner vor den Amerikanern im Komitee weit weniger Respekt. Vielmehr glaubten die Amerikaner selbst, mit Rabe eine ungewöhnliche Nazigröße vor sich zu haben: „Er gehört zu hohen Nazikreisen, aber nachdem wir ihm in den letzten Wochen so nahe gekommen sind und dabei gemerkt haben, was für ein toller Mensch mit einem großen Herz er ist, können wir seine Persönlichkeit nur schwer mit seiner Bewunderung für den Führer in Einklang bringen“, schrieb der Arzt Robert O. Wilson in seinem Tagebuch, von dem 1985 in China Ausschnitte veröffentlicht wurden.

Rabe wird Zeuge der japanischen Verbrechen, unter denen besonders die Frauen zu leiden haben. Nach Schätzungen wurden 20.000 bis 40.000 brutal vergewaltigt. – „Einem bleibt der Atem weg vor Ekel, wenn man immer wieder Leichen von Frauen findet, denen Bambusstangen in die Vagina getrieben wurden. Selbst Greisinnen von über siebzig Jahren werden andauernd vergewaltigt“, schrieb Rabe. Angesichts der Brutalität fühlt er sich ohnmächtig. „Wir wissen nicht, wie wir die Leute schützen sollen. Die japanischen Soldaten sind völlig außer Kontrolle geraten.“

Gipfel ungezügelter Brutalität war das Wettköpfen zweier Leutnants, über das damals in japanischen Zeitungen quasi als Freizeitbeschäftigung berichtet wurde. Sie hatten darum gewettet, wer zuerst hundert Chinesen köpft. Als der eine 105 und der andere 106 getötet hatte, trafen sie sich. Da sie nicht mehr feststellen konnten, wer zuerst die 100er-Marke überschritten hatte, beschlossen sie, die Wette bis 150 fortzusetzen. Die als „Nanking-Massaker“ oder auch „Vergewaltigung von Nanking“ bekannte Eroberung der Stadt wurde zum größten Kriegsverbrechen der Japaner in China. Schätzungen zufolge fanden 140.000 bis 300.000 Menschen den Tod.

Für manche bedeutete Rabe die einzige Überlebenschance. Sein Haus und Grundstück waren die sichersten in der ganzen Zone. Öfter warfen sich Frauen und Kinder vor Rabe auf den Boden und schlugen sich die Köpfe blutig, während sie ihn um Hilfe anflehten. Am chinesischen Neujahrstag bedankten sich die Leute mit einem großen Seidentuch mit der Aufschrift: Du bist der lebende Buddha für hunderttausend Menschen.

„Rabe hat als Vorsitzender des Komitees über 200.000 Menschen geschützt“, sagt Wang Weimin von der „Gedenkstätte der Opfer des Nanking-Massakers der japanischen Invasoren“, wie das 1985 eingerichtete Museum offiziell heißt. „Im Unterschied zu den anderen Ausländern im Komitee war Rabe ein Nazi. Gerade das hat ihm ermöglicht, viele Menschen zu retten“, meint Wang. Die Gedenkstätte liegt auf einem Gelände, auf dem nach chinesischen Angaben 28.600 Menschen massakriert wurden. Das Museum, das bisher sechs Millionen Menschen besucht haben sollen, liegt wie eine Grabstätte unter einem Hügel von Kies. Darauf stehen ein toter Baumstumpf und eine steinerne Frauenskulptur. Am Eingang steht an prominenter Stelle auf chinesisch und englisch in Stein gemeißelt: 300.000 Opfer. Die gleiche Zahl findet sich auch auf einer riesigen rotgezackten Wand in der Form eines Fallbeils, die für die Gedenkfeiern zum heutigen 60. Jahrestag gebaut wurde. Während in Japan konservative Politiker die Verbrechen von Nanking kleinreden oder gar leugnen, hat sich China auf die Zahl von 300.000 Opfern festgelegt.

Seit September zeigt die Gedenkstätte eine Sonderausstellung über Rabe und das Internationale Komitee. Sie ist im Unterschied zur düsteren Hauptausstellung in einer hellen Halle untergebracht. Am Eingang steht eine übergroße Gipsbüste von Rabe. Im Januar wurde auch der mit einem Yin-&-Yang-Zeichen verzierte Grabstein von John und Dora Rabe („unvergeßlich, unersetzlich“) aus Berlin nach Nanjing geflogen und inzwischen in die Ausstellung integriert. Sie zeigt Fotos von den Mitgliedern des Komitees und von Rabe, der sich in Feldherrenpose mit Helm und Fernglas am Telefon ablichten ließ oder unter einem am Gartenbunker befestigten Firmenschild posierte: „Office Hours: From 9 pm to 11 pm“.

„Wir Chinesen sehen Rabe als Patrioten und nicht als Nazi. Das Nationalsozialistische an ihm war, daß er sein Land geliebt hat. Diese Liebe konnte er auf die Bevölkerung übertragen, die ihn umgab. Auf keinen Fall war Rabe ein Faschist“, sagt Wang von der Gedenkstätte. Ob Rabe ein Held war, sei nicht einfach zu beantworten. Er habe sehr viel Gutes getan. Anlaß für die Sonderausstellung ist die Veröffentlichung von Rabes Tagebüchern. Seine in Berlin lebende 66jährige Enkelin Ursula Reinhardt war von der chinesisch-amerikanischen Historikerin Iris Chang auf die im Familienbesitz befindlichen Bücher angesprochen worden. Am 59. Jahrestag der Eroberung Nankings vor einem Jahr gab Reinhardt auf einer Konferenz in New York den Beschluß zur Veröffentlichung bekannt.

Chang sieht in Rabe einen zweiten Oskar Schindler. Der durch den Hollywood- Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg bekanntgewordene deutsche Industrielle rettete Tausende Juden vor dem Vernichtungslager und war, wie Rabe, NSDAP-Mitglied. Vergleichen lassen sich die beiden Fälle jedoch nur bedingt. Rabe handelte nicht wie zunächst Schindler aus materiellen Gründen. Im Gegenteil: Der Hamburger konnte sich durch sein Verhalten bei den Japanern nur unbeliebt machen und auch finanziell nur verlieren. Genau deshalb beorderte ihn Siemens in die neue Hauptstadt Hankow (heute ein Teil der Stadt Wuhan d. Red). Der seiner Firma treu ergebene Rabe erhielt die Aufforderung jedoch erst Wochen später, ein Gewissenskonflikt blieb ihm so erspart.

Anfang Oktober dieses Jahres erschienen Ausschnitte aus Rabes 2.300 Seiten umfassenden Tagebüchern zeitgleich in Deutschland, China, Japan und den USA. Herausgeber der deutschen Ausgabe ist Erwin Wickert, ehemaliger deutscher Botschafter in Peking. Als Student hatte er 1936 Rabe in Nanking besucht. Die chinesische Ausgabe des Buches ist in Peking inzwischen sogar auf Bücherständen in den U-Bahnhöfen erhältlich.

Rabe, der nach Meinung eines deutschen Diplomaten für die deutsch-chinesischen Beziehungen ein „echter Glücksfall“ ist, gilt in der Volksrepublik als Kronzeuge für die japanischen Kriegsverbrechen. Der deutsche Geschäftsmann war nicht nur einer der wenigen unabhängigen Zeugen der japanischen Greuel. Vielmehr gilt er, als Angehöriger einer mit Japan verbündeten Macht, auch als besonders glaubwürdig. Die Rabe von China zugeschriebene Rolle ist insofern verständlich, als in Japan gelegentlich auch von höchster Stelle die Verbrechen in Nanking geleugnet werden. Japanische Schulbücher geben nicht die Wahrheit wieder. 1995 mußte gar der Justizminister zurücktreten, weil er die Rede vom Nanking-Massaker als Lüge bezeichnet hatte.

Doch auch in Japan dient Rabe inzwischen als Beleg dafür, daß die von China immer wieder genannte Zahl von 300.000 Opfern übertrieben sei. So meldete die Nachrichtenagentur Kyodo am 2. Oktober, daß Rabes Tagebuch die Zahl der Opfer mit 50.000 bis 60.000 Toten angebe. Laut Wickert nennt das Tagebuch überhaupt keine Zahlen. Vielmehr habe Rabe später in Deutschland von bis zu 60.000 Opfern gesprochen. Wickert hält für möglich, daß Rabe nicht alle Greuel mitbekommen hat, da viele Massaker außerhalb der Stadt verübt wurden. Wickert spricht von „an die 100.000 chinesischen Opfern“. Laut Kyodo bezifferte das Tokioter Kriegsverbrechertribunal 1947 die Nanking-Toten mit 140.000.

Ende Februar 1938 kam Rabe der Aufforderung von Siemens nach und verließ das stark zerstörte Nanking an Bord eines britischen Kanonenboots. Sein Gepäck ließ er von einem Mann tragen, den er als seinen Kuli ausgab. Im Tagebuch enthüllt Rabe, daß es ein chinesischer Fliegeroffizier war, den er in seinem Haus versteckt hatte und an Bord des Schiffes in Sicherheit brachte. Unerwähnt in Rabes Tagebuch ist ein Ereignis, bei dem er etwa eine Woche nach dem Einmarsch der Japaner Yuan Cunrong, einen auf seinem Grundstück lebenden Flüchtling, angeleitet haben soll, zwei Munitionsdepots in die Luft zu sprengen, damit die Japaner kein Unheil mit dem Sprengstoff anrichten. „Er wies mich an, viel Nitrosulfatpulver mitzunehmen, damit eine Linie auf den Boden zu streuen und es dann anzuzünden“, erzählte Yuan dem chinesischen Autoren Xu Zhigen, der 1985 ein Buch über das Nanking-Massaker schrieb.

Vielleicht war es ein Glück, daß Rabe seinen Tagebüchern nicht alles anvertraute, obwohl er sie nur für seine Familie schrieb, die damals nicht in Nanking war. Andernfalls hätte er die Tagebücher später vielleicht nie wiederbekommen. In Berlin hielt Rabe Vorträge über seine Erlebnisse, darunter auch vor der SS in Siemensstadt. Dabei zeigte er Filmaufnahmen, die der amerikanische Missionar John Magee von den Greueln gemacht hatte. Vom Roten Kreuz und der chinesischen Regierung erhielt Rabe für seine Verdienste zwei Orden, mit denen er sich 1938 in Berlin fotografieren ließ. Das Foto wird heute von der Nanjinger Gedenkstätte als Mehrfacheintrittskarte für zwanzig Yuan verkauft. Am 8. Juni 1938 schickte Rabe einen Brief an Hitler mit der Kopie seiner Vorträge. Er ging davon aus, daß Hitler nicht über die tatsächlichen Ereignisse in Nanking informiert war. Zu seiner Überraschung wurde Rabe darauf von der Gestapo verhaftet und stundenlang verhört. Mit einem Publikationsverbot wurde er bald freigelassen. Die bei seiner Verhaftung beschlagnahmten Tagebücher erhielt er jedoch erst später zurück, der Film von Magee blieb konfisziert. Laut Ursula Reinhardt soll ihr Rabe erzählt haben, daß seine Freilassung auf eine Intervention von Carl Friedrich von Siemens bei der Gestapo zurückging.

Mit Rabes Karriere bei Siemens ging es jetzt bergab. Die Firma setzte ihn nur noch als Sachbearbeiter ein. Nach Ausbruch des Krieges in Europa war er für Auslandsreisen der Angestellten zuständig und betreute internierte Mitarbeiter im Ausland. Rabe hatte viel Zeit, seine Nankinger Tagebücher zu überarbeiten und mit Dokumenten zu versehen. Nach dem Krieg verlor er seine Stelle und erhielt nur noch unter der Hand Jobs von früheren Kollegen.

Erst vor zwei Monaten setzte ihm Siemens in seinem Joint-venture „Sinomeric“ in Nanjing ein Denkmal. Die Bronzebüste zeigt Rabe mit einem Buch unter dem Arm. Er diene firmenintern als Vorbild, so ein Siemens-Sprecher, der einräumt: „Was der gute Mann getan hat, ist kein Verdienst von Siemens.“ Von Rabe verspreche man sich keine Werbung für den Konzern in Nanjing, der Fall schade aber auch nicht geschäftlich.

Rabes Antrag auf Entnazifizierung wurde 1946 zunächst abgelehnt. Ein Mann seiner Intelligenz hätte nicht der NSDAP beitreten dürfen, hieß es. Später wurde seinem Antrag doch stattgegeben und ihm sein humanitärer Einsatz in Nanking zugute gehalten.

Die chinesische Kuomintang-Regierung fand 1947 Rabes Berliner Adresse heraus und bot ihm an, auf Staatskosten in China seinen Lebensabend zu verbringen. Dafür sollte er vor dem Tokioter Kriegsverbrechertribunal aussagen. Doch Rabe lehnte ab. Er wollte die Japaner nicht richten. Als in Nanking die Menschen hörten, daß Rabe in der Nachkriegszeit Not litt, sammelten die Chinesen 2.000 Dollar für Rabe. Über die Frau eines amerikanischen Missionars, der Mitglied im Komitee der Sicherheitszone gewesen war, wurde veranlaßt, daß Rabe aus den USA Carepakete erhielt. 1950 starb Rabe an einem Schlaganfall. Das Leben in Deutschland war nicht seine Sache. Einmal schrieb er: „In Nanking der ,Lebende Buddha für Hunderttausende‘, und hier bin ich ein ,Paria‘, ein Outcast! Da kann man schon vom Heimweh kuriert werden.“

„Die Chinesen haben sich über die Tagebücher sehr gefreut“, berichtet Rabes Enkelin. Sieben Professoren der Nanjinger Universität haben es übersetzt. Bei ihrem Besuch sei ihr mehrfach gesagt worden: „Rabe ist unser Stadtheiliger.“ – Das war nicht immer so. 1962 schrieben vier Mitglieder der Historischen Fakultät der Universität Nanjing einen Bericht über das Massaker, in dem sie sich negativ über das Internationale Komitee äußerten. In China unter Verschluß gehalten, wurde der Bericht 1996 in Kanada veröffentlicht. Darin werden die amerikanischen Komiteemitglieder mehrfach als „US-Imperialisten“ bezeichnet. Angesichts einer Weihnachtsfeier heißt es abfällig: Die Ausländer blieben nicht nur unverletzt, sondern während die Japaner zum Klang vor Gewehrsalven ihre Massaker durchführten, amüsierten sie sich bei Wein, Musik und Tanz, feierten Weihnachten und aßen Roastbeef, geröstete Ente, Süßkartoffeln und andere frische Lebensmittel. Nachdem sie ihren Appetit auf Vergnügen gestillt hatten, gingen sie nach Hause.“

Seit einigen Jahren werden die Leistungen des Internationalen Komitees in China wieder objektiver betrachtet. Rabes Tagebücher verstärken jetzt das Interesse an der Vergangenheit. „In der Zeitung habe ich Ausschnitte von Rabes Büchern gelesen“, sagt Herr Wang aus Rabes früherem Haus. „Mein Sohn war schon mit der Schulklasse in der Ausstellung. Sobald ich Zeit habe, möchte ich sie mir auch ansehen.“

Erwin Wickert (Hrsg): John Rabe. Der gute Deutsche von Nanking, DVA, Stuttgart 1997