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Das große Retro-Neo-Cut-up

Hier darf man sich als Macho outen, hier wird jeder Konsumentengeschmack bedient: Warum ich Grimmis nicht mag  ■ Von Thomas Wörtche

Grimmis mag ich nicht. Ich mochte noch nie Grimmis, und es sieht so aus, als ob ich in nächster Zukunft auch keine mögen werde. Grimmis befriedigen mich ästhetisch nicht.

Daran ändert auch nichts, daß zur Zeit Grimmis die Erfolgsformel au goût sind. Die Bestsellerlisten sind vollgepackt damit. Im TV zappt man durch austauschbare Serienprodukte, die heißen „Bella Roth“ oder „Rosa Block“ oder „Tatruf“ oder „Polizeiort“. Philosophiegeschichtliche Werke werden beworben als „spannend wie ein Krimi“, und jeder Grimmi posaunt, er sei „mehr als ein Krimi“. Mit dem Grimmi ist es wie mit dem Beaujolais primeur – er ist arrivé. Und tröstlich ist, daß er auch genauso wieder weggehen wird. So wie in den mittleren 80er Jahren die Science-fiction arrivé war, dann die Fantasy, das südamerikanischen Megaepos zu zwei Kilo Totgewicht. Usw.

Ein deutscher Verein von „Kriminalschriftstellern“ versammelt zirka 120 aktive Autoren allerlei Geschlechts. Die (und ein paar mehr) produzieren zirka 280 deutsche Originalausgaben, dazu kommen zirka 530 aus anderen Sprachen übersetzte deutsche Erstausgaben (Credits an Reinhard Jahn vom „Bochumer Krimi Archiv“, Zahlen für 1997). Macht im Monatsdurchschnitt 67,5 Titel. Dabei ist noch gar nicht mitgezählt, was ohne Etikettenaufkleber die „Allgemeinen Reihen“ der Taschenbuchverlage stopft. Und das alles soll auch nur diskutabel sein?

Wirtschaftlich ist das sicher erfreulich. Grimmis nähren Spezialbuchhandlungen, geben launige Themen für Magisterarbeiten her, füllen lustige Handbücher mit Artikeln über „Kinder-“ und „Katzenkrimis“, dienen als „mal was anderes“ für Feuilletonbeilagen & Funkfeatures. Grimmis bedienen einfache Bedürfnisse: Richtig auf Linie getrimmte Bücher finden Leserinnen vermutlich nur noch unter dem Schlagwort „Frauenkrimi“, während picklichte Kerlchen ihre Wichsvorlagen unter dem einschlägigen Stichwort „Hardboiled – & dicked, USA, GB“ finden, wo man sich auf Wein, Weib & Gewalt noch verlassen kann. In Grimmis werden noch Ost/West-Identitäten hochgehalten, durch tragischen Verlust (na ja, vornehmlich Ost). Jede Region, jeder Stadtteil hat seine Grimmis, und wehe, die Litfaßsäule auf Seite 10 steht 20 Zentimeter zu weit links. Die Grimmi- Welt hat sich endlich nach dem Muster der Reihenhaussiedlung eingerichtet und hält für jede Zielgruppe prompt Produkte bereit, so verbraucherfreundlich wie Babycremes.

Anwaltsschmöker und Alterömerschwarten

Grimmi bietet etwas für jeden, und man darf Verlagen nicht böse sein, wenn sie alles verkaufen; das ist ihr Beruf. „Flavour of the month“ heißt das in den USA. Hierzulande gehen die verschiedenen Flavours ineinander über, weil manche schneller und manche langsamer unters Lesevolk gebracht werden. Deshalb mischen sich Anwalts- und Präsidentenschmöker so apart mit Genmanipulations-, Virtual- reality- und Alterömerschwarten.

Die richtigen Schritte in die richtige Richtung haben die meisten Verlage getan: Bis auf ein paar mürb geklopfte (und hin und wieder immer noch mit interessanten Büchern aufwartende) Fachleute verwalten Grimmis meistens Menschen, die nicht mal skrupellos zu sein brauchen. Weil sie gar nicht wissen müssen, daß es Unterschiede zwischen „Grimmis“ gibt. Grimmi ist ein Selbstläufer. Und die Lektüre der meisten „Grimmi- Kolumnen“ zeigt, daß dort endlich wirklich jeder über die Bücher schreiben darf, die er schon immer heimlich gern gelesen hat. Hier darf man sich outen. Da sieht man mal, welchen Fortschritt das ehemals naserümpfend betrachtete Genre angeschubst hat.

Der Grimmi-Boom tut viel Gutes: Internet und Fanpostillen bieten wahrhaft demokratische Foren zum Austausch über die kleinen Lieblinge. Fachleut ist jeder, der schon immer gern Katzen-Grimmis („find' ich gut“) gelesen hat. Dagegen gibt es kein Argument. Der Grimmi-Boom schafft Hemmschwellen ab, die die „offizielle“ Kultur mühsam aufgebaut hat. So viel heitere Unbefangenheit im Umgang mit Texten war nie. Der Anarcho-Demokrat in mir begrüßt das zutiefst. Der Pessimist aber fragt: Was ist, wenn der Boom aus ist? Wird man all diese Tugenden dann auf andere Textgruppen übertragen? Wird man mit genausoviel Liebe alle Stellen über Katzen und das Privatleben von „Heldinnen“ in postdekonstruktivistischen Avantgardewerken zusammenstellen? Wird man Retro-Neo-Cut-up-Kochbücher edieren?

Ich fürchte eher, in nicht allzu ferner Zukunft wird man vor dem Grimmi-Boom der 90er stehen und sich fragen: Was hat's denn ästhetisch gebracht? Sind wir weiter als in den 80ern? Was tun mit all den Halden von Schlichtprosa? Mit all den Dingern, die zwar „Literatur“ heißen, aber dummerweise über lauter schicken, neuen, unerhörten Themen vergessen, daß man über Themen auch in Zeitungsarchiven nachlesen kann, Literatur aber mehr ist: eine bestimmte Organisationsform von Text? Was mit all den Fernsehserien, die sich dramaturgisch kein bißchen von „Derrick“ unterscheiden, aber – unerhört! – von Russenmafia und Kinderschändern handeln? Und was, wenn man versucht, die „Realität“ der 90er aus all diesen Romanen zu rekonstruieren, die Existentes gar nicht bearbeiten? In denen Polizeiarbeit aussieht wie im Kasperletheater und die Konfliktlagen („OK“, „Das Böse“, „Die Korruption“) so, wie sie dargestellt sind, aus den Wolken gegriffen sind? Wenn wir merken werden, daß die Welt sich verändert haben wird und das Gros der Grimmi-SchreiberInnen dafür null Sensorium aufgebracht hat?

Der Krimi als Weltverfassung

Der Grimmi-Boom, fürchte ich, verdeckt im Moment unter all dem niedlichen und liebenswerten Geröll eine wichtige Potenz, die Kriminalliteratur seit Chestertons Zeiten immer hatte: sich künstlerisch auf Realien einzulassen, sich die Realien auf deren kriminelle Verfaßtheit hin ganz genau anzuschauen und damit künstlerisch umzugehen, mit ästhetischen Mitteln ernsthafterweise, also spielerisch der Welt auf den Leib zu rücken. Denn Gewalt und Verbrechen sind für diese Welt konstitutiv, und deshalb ist der Begriff Kriminalliteratur auch Programm.

Erlaubt war und ist dabei alles: Raffinesse und gezielte Geschmacklosigkeit, Eleganz und rohes Rasen, Surrealismus und Bizarrerie. Kurz: Alles Mittel der Kriminalliteratur, die zur Zeit verpönt sind. Heraus kommt der Grimmi, der den unverbindlichen Kuschelgrusel (und mag er noch so bluttropfend daherkommen) nicht stört.

Aber wie gesagt, der Konjunkturschlick wird wieder weggespült werden. Ich werde dann immer noch keine Grimmis mögen (die es dann vermutlich immer noch geben wird, allerdings eher unhysterisch, so wie es in den 80ern immer noch Wim Thoelke gab), aber weiterhin große Freude an spannender Kriminalliteratur haben.

Eine weniger nette & heitere Seite hat das momentane Grimmi- Getüddele aber doch. Alles, was nicht in die glatten, griffigen Muster paßt, wird aus dem „Markt“ gemobbt. Eine Reihe wichtiger AutorInnen (Jerry Oster, Tom Kakonis, Ray Ring, Sarah Shankman usw. – man kann sie weder nach „Subgenre“ noch nach Parametern wie „gesellschaftskritisch“ o.ä. sortieren) verliert zur Zeit in den USA ihre Verlage. Weil deren finanzielle und personellen Kapazitäten vom ganz leicht Verdaulichen verzehrt werden. Der Trend wird uns bald voll treffen.

Was nicht sofort als Grimmi erkennbar ist oder nicht den alleroberflächlichsten Grimmi-Konventionen gehorcht (weil intellektuell zu profiliert, literarisch zu komplex und damit irgendwie unbequem), kommt weg. Übrig bleiben die künstlerisch ungeschlachten, seit den 20er Jahren hunderttausendfach wiederholten Grundmuster – Leiche, Aufklärer, Mörder. Aufgemotzt durch die resp. „Moden“ des Zeitgeistes und sprachlich und formal regressiv. Der Erfolg von Donna Leon ist kein Zufall.

Ein Spiel um 50.000.000 Dollar

Niemand neidet Elizabeth George & Patsy Cornwell & John Grisham ihre Millionenvorschüsse, die die Verlage nie wieder „reinbekommen“ werden, was sie aber mit allen Mitteln versuchen. Wo 50.000.000 Dollar im Spiel sind, verliert „Literatur“ die letzte Unschuld. Die aberwitzigen Summen bedeuten gewiß eines: die Verdrängung von wichtiger Literatur und ihren Verfassern.

Hier allerdings, und das stimmt dann auch wieder gelassener, liegt die Macht der Leser. Ein bißchen Darwinismus hat der Kriminalliteratur als nichtsubventionierter Literatur noch nie schlecht getan. Sie muß sich als kommunikative Kunst dem Dialog mit dem Publikum stellen. Das macht ihre Stärke aus. Sie muß sich nicht – als Dödel- Grimmi – sämtlichen Wallungen des schlechten Geschmacks ohne Not ergeben. Deshalb ist es äußerst dumm, qualitative Standards dem digitalen „Mag ich“/„Mag ich nicht“ zu opfern. Man kann Ross Thomas nicht auf derselben Ebene diskutieren, rezipieren, bearbeiten wie Tom Clancy, John le Carré, nicht wie Robert Ludlum, „Cracker“, nicht wie „Der Alte“. Das ist bloß formale Demokratie, die aber vernichtet demokratische Kunst.

Und deswegen mag ich besonders zur Zeit keine Grimmis.

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