: Panne oder Panikmache?
Am Wochenende standen angeblich 10.000 Kurden vor den Toren Europas – 24 Stunden später gilt die Zahl plötzlich als Erfindung. Und keiner will es gewesen sein ■ Von Patrik Schwarz
Berlin (taz) – Die Zahl ist falsch, soviel ist inzwischen sicher. Von 10.000 Kurden im Anmarsch auf Europa war am Wochenende die Rede. Die Nachricht paßte ins innenpolitische Klima der vergangenen zwei Wochen: Politiker wie Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) und Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) warnten vor Tausenden illegaler Grenzübertritte in die Bundesrepublik, weil Italien nicht rigoros genug gegen Kurden aus der Türkei und dem Irak vorgehe. Die Geschichte der falschen Zahl zeigt, wie willkürlich Politik und Medien nach der Landung der zwei Flüchtlingsschiffe in Italien mit der Zahl möglicher weiterer kurdischer Zuwanderer umgehen.
Nach Erkenntnissen deutscher Polizeibehörden würden sich derzeit an der Südküste der Türkei 10.000 kurdische Flüchtlinge auf den Weg nach Deutschland vorbereiten – so hatten es am Wochenende verschiedene Nachrichtenagenturen unter Berufung auf einen Bericht der Welt am Sonntag (WamS) gemeldet. Das Blatt zitierte den Präsidenten der bayerischen Grenzpolizei, Gerhard Hoppe, mit der Information, in der Türkei stünden mehr als 20 Schiffe mit einer Transportkapazität von jeweils rund 500 Menschen für die Überfahrt bereit. Bei Hoppes Grenzpolizeipräsidium wußte ein Sprecher zunächst nicht, auf welche Informationen sich der Präsident stützte. „Die 10.000 sind jedenfalls noch nicht in Italien oder kurz davor“, sagte er der taz. „Das sind Willige, Ausländer, die nach Europa wollen.“ Hat die WamS den Präsidenten also falsch zitiert? „Nein, das sage ich nicht.“
Kurz darauf dementierte Hoppe doch, und zwar persönlich: „Die Zahl 10.000 wurde vom Interviewer als eigene Zahl in den Raum gestellt. Ich habe sie weder selbst genannt noch bestätigt.“
Der Autor des Zeitungsberichts, André Uzulis, wies gegenüber der taz Hoppes Dementi als „wachsweich und peinlich“ zurück. „Da hat er kalte Füße bekommen – oder Druck aus dem bayerischen Innenministerium.“ Hoppe habe von „einer ganzen Armada“ von Flüchtlingsschiffen gesprochen, die in der Türkei zusammengezogen würden, und auch ausdrücklich die Zahl von 20 Schiffen genannt. Außerdem sei der vollständige Text des Aufmachers vor der Veröffentlichung an Hoppes Pressesprecher gefaxt worden, ohne daß dieser die Zahlen beanstandete.
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