■ US-amerikanische Pensionäre haben die mächtigste Lobby im Land. Die Regierung konsultiert sie bei jedem Gesetzesvorhaben. Ihr Einfluß wächst Von Peter Tautfest: Altern ist ... sexy!
Wandelt sich die Heimstatt des Jugendkults zum Land der Oldies? Das wäre bestenfalls die halbe Wahrheit. Nicht die Bevölkerung Amerikas altert, sondern die Amerikaner bevölkern das Alter. Nicht Amerika altert, sondern in Amerika verjüngt sich das Alter.
Zwei Männer haben in Washington ein Vetorecht. Der eine ist Bill Clinton, den anderen kennen die wenigsten, obwohl er an der Spitze der mitgliederstärksten Organisation des Landes steht. Horace B. Deets ist Vorsitzender der AARP, was für American Association of Retired Persons steht, die amerikanische Vereinigung der Pensionäre. Die AARP hat fünfmal soviel Mitglieder wie die berüchtigte National Rifle Association, Amerikas Ballermann-Lobby, und ihr Budget ist zwanzigmal so groß wie das der rechtsgerichteten Christian Coalition, der das Land die konservative Revolution der letzten Jahre verdankt. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift Modern Maturity (Moderne Reife) ist das auflagenstärkste Magazin des Landes. Der Einfluß von AARP dürfte noch wachsen, denn in den kommenden vierzig Jahren wird sich die Zahl der über Fünfzigjährigen auf 129 Millionen nahezu verdoppeln. Wenn die AARP, wie bisher, auch dann nur die Hälfte aller über 55jährigen organisiert, wird sie bald mehr Mitglieder zählen, als Griechenland und Italien heute Einwohnern haben. Die Alten in Amerika sind keine homogene Gruppe, das hält die AARP nicht davon ab, Politik zu machen. Ronald Reagan, der vergeblich versuchte, das Pensionsalter heraufzusetzen, nannte sie einen 800 Pfund schweren Gorilla, und Bill Clinton versäumt es nie, die AARP vor jeder Gesetzesinitiative zu konsultieren. Je nachdem, wem man zuhört, ist die Vereinigung der Ruheständler Amerikas Ersatz für eine sozialdemokratische Partei oder eine Organisation des weißen Mittelstandes zur Verteidigung von dessen Pfründen auf Kosten der restlichen Nation. Sie setzt sich für die Anhebung der Mindestlöhne, für Mietpreisbindung, für die Reform des Krankenkassenwesens, für höhere Benzinsteuern, vor allem aber für den Erhalt des Rentensystems und der Krankenversicherung der Alten ein. Welche politische Macht die Alten in Amerika potentiell haben, wird deutlich, wenn man sich deren Wahlverhalten ansieht: Während die Wahlbeteiligung der Gesamtbevölkerung unter fünfzig Prozent liegt, beträgt sie bei den über Fünfzigjährigen zwischen sechzig und achtzig Prozent.
Amerika steht vor einer demographischen Revolution. Anfang dieses Jahrhunderts war jeder 25. Amerikaner älter als 65, heute ist es jeder achte. Im Jahre 2050 werden die über 55jährigen mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Am schnellsten wächst die Bevölkerungsgruppe der über Achtzigjährigen. Die Generation, die seit den fünfziger Jahren auf ihrem Weg die Alterspyramide hinauf bisher noch jede gesellschaftliche Umwälzung der Moderne auslöste, ist dabei, den Begriff und die Wirklichkeit des Alters zu revolutionieren. In die Jahre kommen nämlich jene, die in den Sechzigern die Bürgerrechtsbewegung und die sexuelle Revolution auslösten, in den Siebzigern den Vietnamkrieg stoppten und den Präsidenten Nixon feuerten, die in den Achtzigern Umweltbewußtsein zur Massenerscheinung machten und in den Neunzigern mit der Demontage der Bundesregierung begannen und den Staat aus mehr und mehr Bereichen der Gesellschaft zurückdrängten. Es darf davon ausgegangen werden, daß sie das Verhältnis der Generationen ebenso neu bestimmen werden wie das der Geschlechter und Rassen.
Motor des demographischen Wandels in Amerika ist ein Geburtenboom, der von 1946 bis 1964 anhielt – ein vergleichbarer Geburtenüberschuß in Deutschland umfaßt nur die Jahrgänge von 1961 bis 1968 und fiel dabei weit geringer aus. Die Generation der „Babyboomer“ wird in diesen Jahren fünfzig (Clinton feierte letztes und Hillary dieses Jahr ihren Fünfzigsten) und geht Anfang des nächsten Jahrhunderts in Pension. Sie bildet die Basis der demographischen Umwälzung. Und nicht nur das Älterwerden dieser Generation bestimmt die soziale Tagesordnung des Landes, sondern die Kultur dieser Generation bestimmt das Älterwerden und verwandelt das Alter. Ihre Message: Alter ist Power, Altern ist sexy!
Daß die klassische Periodisierung des Menschenlebens in die Epochen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Greisenalter offensichtlich nicht mehr mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit übereinstimmte, motivierte Anfang der neunziger Jahre die amerikanische Soziologin Gail Sheehy in ihrem Buch „Lebensalter im Wandel der Zeiten“ („Mapping your Lifetime Across Time“, New York, Random House 1995) zu einer radikalen Neubestimmung der Lebensabschnitte. Das klassische Mannes- bzw. Frauenalter teilt sie in drei Phasen ein: provisorisches Erwachsenenalter oder Generalprobe aufs Erwachsensein (18–35), erstes Erwachsenenalter (35–45) und zweites Erwachsenenalter (45–85). Diese Neueinteilung von Lebensabschnitten ist nicht nur Ausdruck längerer Lebenserwartung – in Amerika beträgt sie jetzt für Frauen 79 und für Männer 73 Jahre –, sondern auch der Tatsache, daß Menschen heute, freiwillig oder unfreiwillig, im Alter zwischen 45 bis 55, vor oder nach der Pensionierung, völlig neue Karrieren beginnen. Dieser Trend fand bereits Ende der sechziger Jahre seinen Niederschlag in einem Anhang zum Bürgerrechtsgesetz, das die Diskriminierung aus Altersgründen untersagt. Der neue Senatsbericht über das Altern zitiert eine 1988 vom Commonwealth Fund begonnene Langzeitstudie, die zum Ergebnis kommt, daß die bislang in den siebziger und achtziger Jahren gängige Abschiebung von Arbeitern und Angestellten in den unfreiwilligen vorzeitigen Ruhestand die Volkswirtschaft jährlich 135 Milliarden Dollar gekostet hat. Eine 1989 von der AARP in Auftrag gegebene Umfrage bei 400 Betrieben und Unternehmen ergab, daß ältere Arbeitnehmer wegen ihrer größeren Erfahrung, größerer Produktivität und größerer Firmentreue hoch geschätzt sind und daß sich allmählich herumspricht: Die Einstellung von Alten ist profitabel.
Daß die Alten eine gesellschaftliche Produktivkraft sind und daß die Gesetzgeber das wissen, schlägt sich auch im Erhalt, ja in der Ausweitung eines seit 1973 bestehenden Seniorenprogramms nieder. Das muß auf dem Hintergrund der sozialen Demontage der letzten beiden Legislaturperioden gesehen werden, in denen fast alle Sozialprogramme umgekrempelt oder abgeschafft wurden. Unangetastet aber erhielt sich das Community Service Employment Programm, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Alte, das Bundesmittel für gemeinnützige Programme auf Gemeindeebene zur Verfügung stellt, die Personen über 55 beschäftigen.
Amerika sei ein schönes Land, vorausgesetzt, man ist weder krank noch arbeitslos, noch alt, hieß es einmal. Das hat sich in mindestens einer Hinsicht gründlich geändert. Zwar ist Krankheit hierzulande inzwischen nicht nur für die Nichtversicherten, sondern auch für jene mit Krankenversicherung kein Spaß. Den Alten aber geht es so gut wie nie. Nicht allen, aber den meisten. Sie leben gesünder als alle Generationen vor ihnen, und ihre Aussichten, auch mit achtzig gesund zu bleiben, sind größer als je zuvor. Das ist Ergebnis gleichermaßen der Fitneßwelle, besserer Ernährung und natürlich einer gewandelten Einstellung zum Alter. Wer heute in Amerika über 65 ist, bezieht meist zusätzlich zur Firmenrente und einer privaten Lebensversicherung die von Roosevelt eingerichtete Social Security. Unabhängig davon, ob und wie man krankenversichert ist, mit beginnendem 65. Lebensjahr hat man in Amerika Anspruch auf „Medicaid“, die gesetzliche Krankenversicherung. Wer alt ist, hat in der Regel das Haus abgezahlt, die Collegeausbildung der Kinder finanziert und wahrscheinlich am Aktienboom des letzten Jahrzehnts verdient. Amerikas Alte verfügen heute meist über mehr Geld als je vorher in ihrem Leben. Sie reisen oder sie arbeiten, sie gehen in vielen Bundesstaaten kostenlos zur Uni und beginnen neue Karrieren, oder sie engagieren sich freiwillig im sozialen Bereich. Ältere Menschen kaufen Farmen oder gehen als Schüler oder Lehrer zurück in die Schulen. Entsprechend ist die Altenpflege im Umbruch. Das Alter hat nach Auskunft von Lorraine Dorfmann, Gerontologin von der University of Iowa, zwei Wanderungsströme ausgelöst: eine in die klimatisch begünstigten Regionen Floridas, Carolinas und des Südwestens und eine andere zu den Kindern. Die Kinder ihrerseits wandern zu den Eltern. Oft genug kommt dabei ein für alle Beteiligten vorteilhaftes Tauschgeschäft heraus: Großeltern ersetzen die fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder. Damit scheint sich ansatzweise der Traum der Deregulierer zu erfüllen: Statt zum Generationskrieg trägt der demographische Wandel dazu bei, viele Aufgaben, die der Sozialstaat übernommen hatte, in die Gesellschaft zurückzuverlagern.
Dennoch stellt sich auch in Amerika die Frage: Wie sollen der Sozialstaat und der Generationenvertrag, auf dem er beruht, den demographischen Wandel überleben? 1950 kamen in Amerika auf jeden 65jährigen 16 arbeitende, Steuer- und Rentenabgaben zahlende Amerikaner. Im Jahre 2030 werden es nur noch zwei sein. Zwar fährt der Social Security Fonds zur Zeit Überschüsse ein, die sich bis zum Jahre 2010 auf 239 Prozent der laufenden Ausgaben angehäuft haben werden. Ein Ressourcentopf, den anzupumpen die Regierung nicht lassen kann, und zur Zeit schuldet allein das Pentagon der Sozialversicherung die Kleinigkeit von 30 Milliarden Dollar. Doch ab 2019 wandeln sich die Überschüsse über einen 25-Jahres-Zeitraum in Defizite. Die Kosten für Social Security und Medicare werden im Jahre 2040 zwischen 35 und 50 Prozent der Lohn- und Gehaltseinnahmen aufzehren.
Es steht also eine grundlegende Neustrukturierung der Renten-, Sozial- und Krankenversicherung an. Das wird die große Schlacht der nächsten Legislaturperiode: ein Unterfangen, das nicht gegen, sondern nur mit der AARP gelingen kann. Man darf auf die Lösungsvorschläge gespannt sein.s
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