: Die Massaker in Algerien sind nicht nur den Islamisten anzulasten – sie gehen großteils auf das Konto der Bürgerwehren. Und die wurden von der Armee ausgerüstet. So lauten die Anschuldigungen zweier Exmitarbeiter des Regimes, die heute in London leben Aus London Reiner Wandler
Algeriens Militärs kennen die Mörder
Die meisten Massaker, die heute in Algerien stattfinden, werden von den Selbstverteidigungsgruppen verübt.“ Die Anschuldigungen des ehemaligen algerischen Diplomaten Muhammad Labri Zitout gegen Regierung und Militärführung seines Landes sind ungeheuerlich. Das Treffen mit dem stellvertretenden Botschafter Algeriens in Libyen von 1991 bis 1995, der seit gut drei Jahren in Großbritannien lebt, ist leichter zustande gekommen, als erwartet. Ein paar Anrufe unter einer Mobilfunknummer, dann ist es soweit.
Auf die Minute genau taucht der smarte Mitdreißiger im Gewühl des U-Bahnausgangs eines Londoner Vororts auf: braune Lederjacke, Aktentasche, die Tageszeitung Times unterm Arm – genau wie abgesprochen. Einer der hochrangigsten algerischen Überläufer ist bereit, bei eisiger Kälte in einem kleinen Park Rede und Antwort zu stehen.
Wie kommt er dazu, die meisten grausamen Überfälle in Algerien den von der Armee ausgerüsteten Bürgerwehren anzulasten, statt, wie es die Regierung tut, den Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA)? Zitout: „Die über 200.000 Mann in 5.000 Gruppen rächen sich an all denen, die sie für Islamisten halten.“ Für diese undurchsichtige Lage sei die Armeeführung selbst verantwortlich: zum einen durch die Ausgabe von Waffen an Zivilisten, zum anderen durch die Politik der Geheimdienste. „Es ist wahr, daß ein Teil der Massaker auf das Konto islamistischer Gruppen gehen“, so Zitout. „Aber die sind in ihrer Mehrheit vom militärischen Sicherheitsdienst unterwandert.“
Um das zu belegen, berichtet er von einem Gespräch, das er 1994 mit dem Sicherheitschef der algerischen Botschaft in Libyen geführt haben will. „Ich war beunruhigt, weil ich befürchtete, daß die bewaffneten Islamisten in Algerien die Macht übernehmen könnten. Der Sicherheitschef der Botschaft versuchte mich zu beruhigen. ,Dazu kann es gar nicht kommen‘, sagte er, ,denn der größte Teil der GIA, das sind wir selbst. Wir haben die Gruppen gezielt infiltriert.‘“ Diese Eröffnung sei für ihn der Auslöser gewesen, sich ins Ausland abzusetzen, gibt Zitout an. „Plötzlich war mit klar: Die Militärs manipulieren das gesamte gesellschaftliche Leben Algeriens. Der Terror soll die Islamische Heilsfront (FIS) bei der Bevölkerung in Verruf bringen, die einzige Kraft, die den Generälen hätte gefährlich werden können.“
Nicht nur einmal besteht Zitout während des Gesprächs darauf, nie mit der FIS sympathisiert zu haben. Sein Herz schlage vielmehr für die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS). Muhammad Labri Zitout sieht sich selbst als „Vorkämpfer für mehr Demokratie, ich mache das alles für mein Land“, wiederholt er mehrmals mit betont pathetischem Ausdruck. Um seine Anschuldigungen zu untermauern, vermittelt der Exdiplomat bereitwillig den Kontakt zu einem jungen Offizier der algerischen Armee, der ebenfalls seit einigen Jahren in Großbritannien lebt. „Für die deutsche Presse sind wir immer bereit, Interviews zu geben. Bei den Franzosen sind wir vorsichtiger. Viele von denen haben die Unabhängigkeit Algeriens noch immer nicht verwunden“, erläutert Zitout eines seiner Kriterien.
Als „Capitaine Haroun, von Beruf Spion“ stellt sich der Mann vor, der einen kühlen, berechnenden Eindruck macht. Haroun sei sein Deckname, den er zu Beginn seiner 14jährige Laufbahn beim Militärischen Sicherheitsdienst der algerischen Armee (DRS) angenommen habe. Seinen bürgerlichen Namen möchte der 1995 nach Großbritannien desertierte Agent ebensowenig preisgeben wie sein Alter.
Der Exagent hat die frequentierte Empfangshalle eines der großen Hotels in der Londoner Innenstadt als Treffpunkt ausgesucht. In seinem Anzug aus teurem englischen Tuch bewegt er sich ganz souverän zwischen den Geschäftsleuten verschiedenster Nationalität, die hier verkehren. Gezielt steuert Haroun auf einen Tisch zu, von dem aus er mit dem Rücken zur Wand den gesamten Empfangsbereich überblicken kann. Das Aufnahmegerät muß abgeschaltet bleiben. Nicht so sein Mobiltelefon. Alle paar Minuten klingelt es. „One moment please“, entschuldigt er sich beim Gesprächspartner. Dann verzieht sich Haroun in eine stille Ecke, flüstert ins Telefon und läßt dabei die Blicke schweifen.
„Meine ganze Familie ist bei der Armee“, antwortet Haroun auf die Frage, warum er Agent wurde. Sein Vater, ein Veteran aus dem algerischen Unabhängigkeitskrieg, sei sogar einer der Begründer des militärischen Geheimdienstes. „Der militärische Sicherheitsdienst begann lange Zeit vor Gründung der GIA, die Islamisten zu unterwandern“, erzählt der Agent. Zusammen mit dem sowjetischen KGB hätten die Algerier Agenten bei den Gruppen eingeschleust, die als Freiwillige in den Afghanistankrieg zogen. „Einige dieser Agenten kenne ich noch aus meiner Ausbildungszeit“, sagt Haroun.
In seiner Stimme schwingt Stolz mit. Wer den Krieg der Mudschaheddin gegen die Rote Armee überlebte, sei bei seiner Rückkehr in eine gerade gegründete „Spezialsektion für Fundamentalismus“ übernommen worden. Ihr erster großer Erfolg: die Infiltrierung der islamischen Guerilla von Mustafa Bouyali, die Mitte der achtziger Jahre im Süden Algiers operierte. Den Agenten sei es gelungen, den engsten Vertrauten des Anführers der Muslimrebellen umzudrehen und Bouyali in einen tödlichen Hinterhalt zu locken.
Nach Abbruch der Wahlen von 1992 nahm sich die gleiche Spezialabteilung der ersten Bewaffneten Islamischen Gruppen an. „Ich habe gesehen, wie Bombenanschläge geplant oder Bomben und anderes Material an die GIA weitergegeben wurden“, sagt Haroun, nicht ohne zu beteuern, daß er selbst „kein Blut an den Händen und kein schmutziges Geld in den Taschen“ habe. „Heute haben die meisten Familien ihre Häuser mit Stahltüren und Metallfensterläden gesichert. Es bedarf schon einer Unmenge an Sprengstoff und Flammenwerfer, um die Massaker zu organisieren“, sagt Haroun und fragt: „Woher haben wohl die GIA das alles in einem Land, in dem seit Jahren alle Grenzen hermetisch abgeriegelt sind?“
Wie zuvor schon Zitout bezeichnet Haroun den Ausbruch von etwa tausend Häftlingen aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Tazoult 1994 als eine der wichtigsten Operationen zur Unterwanderung der GIA. „Der Ausbruch wurde vom Geheimdienst organisiert. Unter den Flüchtigen, die alle in den Untergrund gingen, befanden sich rund hundert Geheimdienstagenten.“
Neben der gezielten Unterwanderung der islamistischen Gruppen durch den DRS von General Muhammad Madienne seien innerhalb der Sondereinsatztruppen von General Smain Lamari „Todesschwaderone“ gegründet worden. Die seien dafür zuständig, ganze Familien von mutmaßlichen Islamisten auszurotten. „Ich habe Offiziere gesehen, die nach solchen Einsätzen heulend zusammengebrachen.“
„Warum sterben in Algerien immer die Armen, die die Islamische Heilsfront gewählt haben? Warum trifft es nie die Siedlungen der Reichen und Mächtigen des Landes?“ fragt der Agent. Und gibt dann selbst die Antwort: „Je undurchsichtiger die Lage, um so manipulierbarer die Bevölkerung. Die Menschen sind so eingeschüchtert, daß keiner mehr danach fragt, wie die Generäle zu ihren Millionenvermögen gekommen sind, mit denen sie sich jetzt im Zuge der Privatisierung bei den ehemaligen Staatsbetrieben einkaufen.“
Wovor die Generäle am meisten Angst hätten, so Haroun, sei „ein Bruch der jungen mit den alten Offizieren und ein Putsch innerhalb der Armee“. Deshalb seien die Todesschwadrone auch für die innere Disziplin in der Armee zuständig. „Wer Kritik äußert, wird ermordet. Dafür werden dann ebenfalls die GIA verantwortlich gemacht.“
Haroun zufolge sind solchen „Säuberungen“ innerhalb der Armee 200 bis 300 Offiziere zum Opfer gefallen. Zu Anfang des Konflikts habe es häufig Überläufer aus der Armee in den islamistischen Untergrund gegeben. „Das ist heute vorbei, denn die eingeschleusten Agenten machen selbst im Untergrund Jagd auf Deserteure“, sagt Haroun. „Wenn irgendeine internationale Untersuchungskommission meinen persönlichen Schutz gewährleistet, kann ich das alles belegen“, beteuert Haroun mit fester Stimme. „Die Archive des DRS sind voll von Dokumenten.“
Ob er keine Angst habe? „Nein“, lautet die prompte Antwort. „Ein Journalist, der ermordet wurde, hat einmal gesagt: ,Wer redet, stirbt. Wer nicht redet auch. Also sei ein Mann, rede und stirb!‘“ Ein kurzer Händedruck und „Capitaine Haroun“ tritt aus der Hotellobby hinaus auf die Straße und verschwindet in der Menschenmenge.
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