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Stadt, Rand, Frust

■ Zwischen Mittelmaß und Flachgang: „Europa erlesen“ heißt eine Reihe im Wieser Verlag, die regionale und Städte-Literaturen erkundet

Eine Stärke des Klagenfurter Wieser Verlages bestand in der Vergangenheit stets darin, in den Literaturen zwischen Karpatenbogen und Adria zu schürfen und dem deutschen Sprachraum unbekannte Dichterschätze zu vermitteln. Höhepunkt war dabei die Reihe „Buch der Ränder“ zu Prosa, Lyrik und Frauenliteratur Ostmittel- und Südosteuropas – Anthologien, die ohne Zweifel eine hohe Meßlatte für weitere Sammelbände darstellen.

Auch die neue Reihe, „Europa erlesen“, legt besonderes Gewicht auf Regionen, die durch die Geschichte an den Rand gedrängt wurden. Die ersten sechs Bände befassen sich mit Istrien, dem slowenischen Karst und Mähren sowie mit den Städten Triest, Venedig und Wien. Doch lediglich der Istrien-Band erfüllt den Anspruch der Ränderbücher. Neben Texten, die außerhalb Istriens über die Halbinsel geschrieben wurden (Reiseberichte, ethno- und geographische Literatur, Tagebuchnotizen, Memoiren) enthält dieses Buch zahlreiche Erstübersetzungen. Mit Stolz kann Johann Strutz, Herausgeber und in vielen Fällen auch Übersetzer, feststellen: „Zum ersten Mal – nicht einmal in Istrien selbst gibt es eine vergleichbare Edition – wird hier eine Auswahl aus allen istrischen Literaturen und Literatursprachen vorgestellt.“ Tatsächlich kommen, neben einigen bereits übersetzten Autoren wie Fulvio Tomizza und Dragan Velikić, zwanzig bisher nicht ins Deutsche übersetzte istrische Autorinnen und Autoren zu Wort, mehr als die Hälfte der Texte sind „frische Übersetzungen“. An den Sprachen und Dialekten der Schreibenden erkennt man das Bemühen um größtmögliche regionale Streuung. Auch findet man in diesem Band innere Strukturen, etwa den „kolonialistischen Blick“ in den älteren Fremdberichten, die literarische Wahrnehmung der großen Zwangswanderbewegungen aus der jeweiligen Sicht italienischer und slawischer Autoren, das Problem der Grenze, der Ausgrenzung und der Grenzüberschreitungen, so daß der Leser eine Ahnung von den diffizilen Tiefenschichten dieses Erdenwinkels erhält.

Die anderen Bände fallen dagegen deutlich ab. Christa Rothmeier präsentiert zwar sehr routiniert einen Querschnitt durch die mährische Dichtung; ihre Vorliebe für Jan Skácel, einem der größten tschechischen Dichter dieses Jahrhunderts, in ihrer Anthologie vierzehnmal vertreten, mag man ihr wahrlich nicht übelnehmen. Doch wirklich Neues bringt sie nicht, außer einem Text sind alle anderen bereits irgendwann einmal in deutschen Übersetzungen erschienen. Die jüngsten Autoren sind um die fünfzig, der Nachwuchs ist gar nicht vertreten.

Vermittelt „Mähren“ wenigstens einen repräsentativen Überblick über die etablierte Literatur der Region, so läßt sich das vom „Karst“ nicht behaupten. Man sollte meinen, ein Verlag, der wie kein anderer im deutschsprachigen Raum der slowenischen Literatur nahesteht, ist prädestiniert für die Erkundung dieser westslowenischen Landschaft. Doch zwei Drittel aller Texte stammen von regionsfremden Autoren, der Großteil der „einheimischen Texte verteilt sich auf alte Bestände, auf längst Übersetztes von Scipio Slataper und Srečko Kosovel, und nur drei von 68 Texten sind Erstübersetzungen. Die literarische Qualität von Slatapers „Mein Karst“ und Kosovels Gedichten ist unbestritten. Aber Neuland, wie im Istrien- Band, wird hier nicht betreten.

Hat man sich von den bisherigen Städtebüchern einmal Venedig zu Gemüte geführt, vergeht einem leicht die Lust, sich noch für Triest und Wien zu interessieren. Die Herausgeberin Susanne Gretter hat fast ausschließlich Texte über Venedig, kaum jedoch venezianische Texte gesammelt. Davon, wie venezianische Literaten ihre Stadt sehen, in ihrer Geschichte und in ihrem Alltagsleben, davon erfährt der Leser absolut nichts. Lediglich ein Venedig aus der Froschperspektive literarischer Touristen wird präsentiert, ein totes Venedig, ohne Seele, Nerv und Herz.

Absolut nichts Neues enthält der Triest-Band derselben Herausgeberin. Wenigstens bringt sie hier einheimische Autoren, freilich ohne jede Ambition, Unbekanntes aus der Triester Literatur zutage zu fördern. Denn das Problem bei Triest ist, daß die Literatur dieser Stadt seit den achtziger Jahren gründlich durchforstet worden ist, so daß Bücher, die bloß aus vorhandenen Übersetzungen kompilieren, rasch hinter dem Horizont der Unauffälligkeit versinken.

Aber vielleicht will diese Reihe gar nichts Neues aufzeigen, vielleicht war das Istrien-Buch nur der Ausnahmefall eines neugierigen Forschers. Auch der Wien-Band beinhaltet nur einen bisher unveröffentlichten Text, und der Herausgeber scheint dem nekrophilen Ruch der Donaumetropole unfreiwillig zu huldigen, denn die Hälfte seiner AutorInnen hat bereits das Zeitliche gesegnet – es lebe der Zentralfriedhof...

So bleibt nur zu hoffen, daß Lebendigeres nachkommt. Und daß sich der Verlag der Qualitäten früherer Anthologien entsinnt. Balduin Winter

In der Reihe „Europa erlesen“, herausgegeben von Lojze Wieser im Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec, sind bisher sechs Bände erschienen. Johann Strutz (Hg.): „Istrien“. 256 S. Christa Rothmeier (Hg.): „Mähren“. 252 S. Lojze Wieser (Hg.): „Karst“. 252 S. Susanne Gretter (Hg.): „Venedig“. 272 S. Susanne Gretter (Hg.): „Triest“. 252 S. Helmuth A. Niederle (Hg.): „Wien“. 258 S. Jeder Band 19,80 DM.

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