Kein Buch zum Film

■ Die ARD-Journalistin Sonia Mikich hat literarisch anmutende Reportagen über das neue Rußland geschrieben – und eine witzige, kluge Reflexion über ihren Job als TV-Reporterin

Da ist die Geschichte von Mascha, dieser „gräßlichen kleinen Schlampe“, mit „den engsten blue jeans, die je in einen Schritt gekniffen haben“, die Vorstadtmadonna aus St. Petersburg, die mit ihren 15 Jahren alles über Sex und nichts vom Leben weiß und nun in einer Klinik mit Schlachthausatmosphäre scheinbar cool auf ihre Abtreibung wartet. Oder die Geschichte von Andrej, dem vierzehnjährigen „alten Kind“, das sich seinen Platz erobert hat in der Hierarchie der Moskauer Autowäscher. Andrej, der jeden wegbeißt, der ihm in die Quere kommt, weil zu Hause in der Satellitensiedlung mit den vollgepinkelten Fluren die behinderte Schwester unversorgt in ihrer eigenen Scheiße sitzt und er als Autowäscher und Gelegenheitsunternehmer mit seinem „biznes“ mehr verdient als die Mutter. Und da ist Xenia, die Moskauer Freundin, die als Kunsthändlerin ihren Urlaub auf den Seychellen verbringt und in ihren Versace- Klamotten die Nase rümpft über die ungestylte Journalistin aus dem Westen. Die russische Erfolgsfrau, die nicht verstehen kann, wie man mit einer Frau Anja befreundet sein kann, die der Freundin noch nie irgend etwas „organisiert“ hat – Geschichten aus dem neuen Rußland. Sonia Mikich holt mit ihrer Beschreibung den „Planeten Moskau“ wie durch ein Teleskop an ihre LeserInnen heran.

Sonia Mikich, das ist „unsere“ ARD-Frau in Moskau. Die mit dem akkuraten Haarschnitt, den offenbar alle TV-Korrespondentinnen haben müssen, die, die immer etwas streng in die Kamera guckt. Jetzt hat die Fernsehjournalistin ein Buch geschrieben. Das ist nicht ungewöhnlich, haben fast alle ihrer AmtsvorgängerInnen auch getan. Ungewöhnlich ist, daß dieses Buch kein Buch zum Film ist, kein lauer Abklatsch der zigfach gesehenen Rußland-Reportagen mit vielen einsamen armen Menschen, viel sibirischer Kälte und russischer Seele. Sonia Mikich kann, was viele ihrer Fernsehkollegen nicht können: Sie kann schreiben. Und die geschriebene Sprache verleiht ihren Reportagen eine gnadenlose Direktheit bei gleichzeitig spürbarer persönlicher Empathie. Es sind Reportagen von unverhohlener Subjektivität und fast schon literarischer Qualität.

Mikich schreibt über ein Land, das widersprüchlicher und von der Geschichte durchgequirlter kaum sein kann. Sie skizziert, wie diese Entwicklung, die Menschen prägt, aus ihnen schillernde, selten geradlinige, manchmal verrückte, oft brutale Charaktere formt.

Da ist das Dörfchen Kazino, in das sich Mikichs Moskauer Freunde Roman und Anja als Pferde züchtende und Rockmusik machende Aussteiger geflüchtet haben. Kazino, ein Dorf der alten Leute, wo nur noch einmal die Woche der Brotwagen kommt und dessen Bewohner nicht nur überschäumend gastfreundlich, sondern gleichzeitig listig verschlagen sind. Der viel zu dünnen Journalistin aus der Stadt drängen sie das Essen auf, zischeln ihr aber auch „Jüdin“ hinterher. Da ist Grosny, von wo die ARD-Korrespondentin über die Greuel des Tschetschenien-Krieges berichtet, der ihr die anfängliche Hochachtung für Boris Jelzin nimmt. Auch hier gibt es nicht nur die bösen Russen und die guten Tschetschenen, sondern Kriegsgewinnler und Machos, tschetschenische Autoschieber und die alte Frau mit den braunen Stützstrümpfen, die – von einem Attentat getroffen – verblutend auf dem Marktplatz liegt und deren erbärmlich dünne Beinchen die erfahrene Journalistin zum Heulen bringen.

Und das ist die zweite Qualität dieses Buches: Mikich schreibt auch auch über sich selbst, über ihre Verwirrung und Hilflosigkeit als professionelle Beobachterin. Das macht aus ihren Buch mehr als eine lesenswerte Nahaufnahme der russischen Gesellschaft. Es ist auch eine witzig-nachdenkliche und sehr weibliche Sicht auf die Tücken des eigenen Berufes. Wo erfahren „Tagesschau“-Zuschauer sonst schon, daß auch telegene Kriegsberichterstatterinnen Nächte mit heftigen Menstruationskrämpfen verbringen und auf der hektischen Suche nach etwas Watte auch noch über eine Schar von herumlümmelnden Kriegern stapfen müssen? Und welch routinierter Fernsehreporter traut sich schon zu sagen, daß er wegen des Tods eines Kameramannes hemmungslos geheult, geschrien und gewürgt hat oder daß ihm die Verheiratung einer jungen, klugen Frau in Usbekistan „das Herz zerrissen hat“.

Sonia Mikich zeigt all diese Emotionen ohne Gefühligkeit. Manchmal sind ihre Beschreibungen schonungslos drastisch – etwa wenn sie über Sexualität in Rußland schreibt: „Was war eine Frau? Im Bett ein Loch mit etwas drum herum und am Tage die Sowjetfrau mit kühnem Blick und dicken Oberarmen. Die KP hatte Menschen ohne Unterleib im Programm.“ Mikich zeigt, daß das geht: professionell arbeiten, ständig nach „guten“ Bildern jagen und doch nicht berufszynisch werden denen gegenüber, über die man berichtet. Vera Gaserow

Sonia Mikich: „Planet Moskau. Geschichten aus dem neuen Rußland“. Kiepenheuer & Witsch, 1998, 272 Seiten, 36 DM