: Der Ekel ist unaufhaltsam
■ Einfühlung oder Faszination für ganz unten? In dem Band "radical eye" streift der Fotograf Miron Zownir ein wenig naiv durch die Welt der Obdachlosen und Exhibitionisten
Auf dem Foto liegt ein Mann in der Ecke eines U-Bahn-Tunnels in Moskau. Er starrt vor Dreck, der Körper ist übersät von aufgekratzten Wunden. Sechs Stunden später das zweite Bild. Auf dem dritten Bild, 30 Stunden später, ist er tot. Ein anderes Foto zeigt ebenfalls einen verhungerten Moskauer Odachlosen, im Hintergrund erkennt man Passanten, einer schiebt einen Kinderwagen.
Ein anderes Bild von Miron Zownir wurde 1981 in New York aufgenommen: In einem Abbruchhaus gibt ein Mann mit Einkaufstasche einem anderen in Turnschuhen einen Blow-Job. Der 1953 in Karlsruhe geborene Fotograf zeigt in seinem ersten Bildband „radical eye“ Transvestiten oder die S/M- Freunde aus der New Yorker Prä- Aids-Homo-Szene und stellt daneben bedrückende Aufnahmen des Zerfalls einer Republik und seiner schwächsten Glieder. „Bitte von Kindern fernhalten!“ steht auf der Rückseite. Während die Stricher, Transen und Exhibitionisten sich auf schwarzweißen, kontrastreichen Fotos meist provokant und selbstbewußt in Szene setzen, zeigen die Moskau-Fotos Menschen am Abgrund, hoffnungslos Verwahrlosung und Verfall ausgesetzt.
Der Wahlberliner Zownir bereiste nach Aufenthalten in New York, Los Angeles und Alaska 1995 die Sowjetunion, um in Moskau und St. Petersburg genau wie in den USA und in den 70er und 80er Jahren in Berlin Menschen aus seiner Umgebung, aus seiner Nachbarschaft zu fotografieren: Obdachlose, Huren, Junkies und Penner. Er habe seine Motive in diesen Szenen gefunden, sagt Zownir, weil sie in Großstädten Realität sind. Bei den Moskau-Aufnahmen, die selbst beim abgeklärtesten Betrachter starke Reaktionen hervorrufen dürften, sei er selbst hin- und hergerissen gewesen zwischen Ekel und Faszination, zwischen starkem Mitleid und dem Versuch, den Menschen zu helfen. Dann kam die Resignation: man könne den Tod oder die soziale Ohnmacht der russischen Armen ohnehin nicht aufhalten.
Eigentlich war Zownir mit dem Auftrag des Hamburger Erotic Art Museums, das russische Rotlichtmilieu abzulichten, nach Moskau geschickt worden. Aber Zownir fand keinen Zugang zur mafiakontrollierten Zuhälterszene, und er kam an dem allgegenwärtigen Elend nicht vorbei. Als er die Fotos dort lebenden Russen zeigte, waren sie entsetzt. „Moskau ist eine aggressive Stadt, keine Zeit zum Hinschauen“, sagt Zownir.
Daß er in dieser Atmosphäre trotzdem fotografiert hat, ändert nichts an der Tatsache, daß es sich trotzdem nur um naiv-realistische „Bestandsaufnahmen“ handelt. Erklären oder helfen wird er mit seinen Fotos nichts, zu hoffnungslos sind die Situationen und Schicksale, die Menschen auf Zownirs Porträts bleiben anonyme Verlierer und triebhafte Unbekannte. Andererseits sei er sich schon komisch vorgekommen als ein reicher Fremder, der das Elend dokumentiert, so Zownir. Aber im Gegensatz zu einem Fotoreporter, der durch seine Arbeit Mißstände aufzeigen möchte, ist er nur zufällig auf die Motive gestoßen, anstatt sie sich in ein beleuchtetes Studio einzuladen, wie viele Kollegen.
Zwischen den drastischen Milieufotos gibt es immer wieder auch skurrile Aufnahmen: ein dickleibiges Berliner Aktmodell liegt grinsend, bis auf die Strapse und Strümpfe nackt, auf ihrem Sofa, auf dem nächsten Bild bietet sie dem Betrachter ihren Hintern. Zu den meisten Leuten habe er schon eine Nähe hergestellt, sagt Zownir, die haben sich dann gefreut, wenn er kam und sie mit Aufmerksamkeit bedachte. Die New Yorker S/M- und Transenszene sei beispielsweise sehr exhibitionistisch. Noch nie habe er etwas gezielt inszeniert. Aber Einmischung hat seinen Preis: Der Fotograf ohne Sicherheitsabstand, wie es im Vorwort seines Buches heißt, wurde des öfteren bedroht oder verhaftet. Jenny Zylka
Miron Zownir: „radical eye“. Mit einem Vorwort von Harry Hass. Die Gestalten Verlag Berlin 1997, 168 Seiten, 49,90 DM
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