: Mal richtig respektlos
■ Wie Nina Hagen und Meret Becker Brecht frivol gegen den Strich bürsteten
Brecht bis zum – Erbrechen geht in diesem Jahr des hundersten Geburtstags des Dramatikers auf uns nieder. Und da Heiner Müller ja auch schon tot ist, quillt von den deutschen Bühnen nunmehr vielstimmiges Lehrpathos. Weg damit, sagten sich beherzt Meret Becker und Nina Hagen und bürsteten Brecht jetzt gegen den Strich.
Mit dem Programm „wir heißen beide Anna“bewiesen die beiden am Wochenende an zwei ausverkauften Abenden in der Oldenburger Cäcilienschule vor allem eines: Wie gut es doch tut, vor den hehren Instanzen des Deutschunterrichts mal so richtig respektlos zu sein. Obwohl: Nina übertreibt natürlich mal wieder kosmisch. Da sie es ganz bestimmt zum Kotzen fand, Brecht auswendig lernen zu müssen, liest sie den Text bisweilen vom Blatt ab und verfehlt dabei das Mikrophon. Als Stilmittel wäre das eine nette Ironie, aber so bitteschön, fanden wir das zum Kotzen. So.
Hinter einer Leinwand am Bühnenrand erscheinen im Licht die Schattenrisse von zwei Frauen – Typ Matrone und schlangenhafte Erscheinung. Das sind sie. Das sind Anna und Anna, die Schwestern aus Louisiana, singen sie, und werden eins – und doch zwei. Nina Hagen und Meret Becker fügen sich zu einer kontrastreichen Einheit: Die Hagen auf Plateaustiefeln, im Ledermantel und ganz unsäglich drapierten schwarzen Fummeln, die Becker in sehr, sehr rückenfreien Kleidern.
Die eine im burschikosen Alt mit viel rollendem Errr, doch manchmal etwas zu fett auf dem Tremolo sitzend. Sie greift sich beherzt in den Schritt zur „Ballade vom Soldaten und dem Weibe“, läßt schwarze und rote Schals symbolträchtig wehen. Die andere im Sopran, kokettierend zwischen Mädchen und Zicke, Unschuld und Schlampe, hauchend, klagend und rotzig: Als Vamp und Weibchen eine lebende Ironie auf Brechts Frauenliebhaberei. Meret Becker aber trägt den Abend sehr differenziert, und trotz gewollter Kontraste neigt Nina Hagen hier und da zur rotzigen Pose: Mit dieser Haltung geraten einige Interpretationen – etwa der Arbeiterlieder – zur Persiflage.
Zu der aber überwiegend erfrischend frivolen Dekonstruktion von Brechtliedern erscheinen auf der Leinwand computeranimierte Comicdias über das Leben des Meisters, und der Schlagzeuger der sechsköpfigen Band spricht als Ansager Briefe und Prosatexte Brechts – schnodderig berlinernd. Diese Mixtur ließ einige Textpassagen plötzlich derart aktuell wirken, daß der Raum vor Aufbruchstimmung zu bersten schien.
Die Kohlen, die dort aufgestapelt und eingezäunt liegen, und die uns doch wärmen sollen: Man war bereit, aufzuspringen und sie zu holen. Wohl keine text- und notentreue Fassung hat bislang den Brechtschen Lebenshunger derart zündend transportiert wie diese Annas. Marijke Gerwin
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