■ Beginn des großen Dopingprozesses gegen DDR-Verantwortliche: Die Doppelmoral der Öffentlichkeit
Politiker verteufeln bekanntlich gern Drogen und den Handel damit, obwohl sie wissen, daß ihr System ohne Rauschmittel nicht funktioniert: Die Sieger brauchen Drogen, um neue Siege zu erringen, die Verlierer brauchen Drogen, um das Verlieren zu ertragen. Nicht zuletzt fließt aus dem illegalen Drogenhandel zu Waschzwecken mittlerweile soviel Geld in die offiziell nicht kriminellen Wirtschaftsbereiche, daß eine Legalisierung von Drogen eine ökonomische Katastrophe zur Folge hätte.
Ein ähnliches Bild im Sportbetrieb: Viele seiner Protagonisten agitieren gegen Doping, wohl wissend, daß ein quasi drogenfreier Sport die Unterhaltungsindustrie existenziell gefährden würde: Es gäbe weniger Rekorde, die Attraktivität vieler Wettbewerbe, ja ganzer Sportarten sänke, und Geschäftspartner der Sportler aus anderen Wirtschaftszweigen würden sich zurückziehen. Außerdem geriete die mediale Produktion von Nationalhelden ins Stocken.
Solche Zusammenhänge geraten bei der öffentlichen Dopingdiskussion nur selten ins Blickfeld. Das dürfte auch kaum im Zuge des Prozesses passieren, der gestern, nach mehr als vier Jahre andauernden Ermittlungen, vor dem Berliner Landgericht gegen zwei DDR-Sportmediziner sowie vier Schwimmtrainer von Dynamo Berlin eröffnet wurde. Im Gegensatz zu den potentiell glamourösen Produkten, die der DDR- Sport hervorgebracht hat (Maske, Niemann, Ullrich et al), braucht man sie nicht mehr. Deshalb werden ihnen jetzt „menschenverachtende Untaten“ (FAZ) vorgeworfen, konkret: die Verabreichung leistungsfördernder Medikamente an Minderjährige.
Das Spektakel, das noch bis zu 90 Verfahren gegen 680 Beschuldigte aus diversen Sportarten nach sich ziehen könnte, wirkt wie eine bizarre Kopie des Prozesses gegen die sogenannten Mauerschützen, doch interessant daran ist weniger der ideologisch-juristische Aspekt. Es ist vielmehr die Naivität jener, die den Strafverfolgern nicht aus politischen, sondern aus sportmoralischen Erwägungen journalistischen Feuerschutz geben. Hinter ihrer Forderung, den Sport von Dopingpraktiken freizuhalten und Übeltäter hart zu bestrafen, verbirgt sich die Illusion, daß Sport quasi in einer Luftblase existieren kann – ohne gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt zu sein. Diese Moralisten wollen einen Sport, der sauber ist und in dem vor allem zwei Maximen gelten: „Fair geht vor“ und „Der Bessere möge gewinnen“. So einen Sport hat es allerdings nie gegeben. Und das ist vielleicht auch ganz
gut so. René Martens
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