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Sherlock Holmes am Rio de la Plata

■ Estela Cantos Erinnerungen an „den Menschen“ Jorge Luis Borges

Für Pablo Neruda war er ein großer Schriftsteller und ein „Dinosaurier“, was das Politische betraf. Ernesto Sabato sprach von einem „Magier“, dessen Verse lehrten, „die melancholischen Schönheiten von Buenos Aires zu entdecken“. Über sich selbst wußte Borges zu sagen: „Es wäre übertrieben zu behaupten, daß wir auf schlechtem Fuß miteinander stünden; ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und diese Literatur ist meine Rechtfertigung. Ich gebe ohne weiteres zu, daß ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten, vielleicht weil das Gute schon niemandes Eigentum mehr ist, auch nicht des anderen Eigentum, sondern der Sprache oder der Tradition angehört.“ So heißt es in dem Prosastück „Borges und ich“ (1960), das in der koketten Bemerkung gipfelt: „Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.“

Jorge Luis Borges, 1899 in Buenos Aires geboren, 1986 in Genf gestorben, liebte das Verwirrspiel. Trotz eines Augenleidens, das ihn in den 50er Jahren erblinden ließ, war er ein begeisterter Leser, ausgestattet mit einem sicheren Gespür für die Pretiosen, die der Kanon übersieht. Seine Texte, häufig im Grenzbereich von Erzählung und Essay angesiedelt, sind Fundgruben echter und erdachter Zitate, springen durch 2.700 Jahre Literatur- und Philosophiegeschichte: Eine unpersönliche Literatur, die Denksportaufgaben statt Identifikationsflächen anbietet.

Ganz andere Fragen stellt die argentinische Schriftstellerin, Übersetzerin und Borges-Vertraute Estela Canto (1916–1994) in der 1989 auf spanisch erschienenen und nun auch auf deutsch vorliegenden Biographie „Borges im Gegenlicht“: Wie war der Mensch Borges? Warum schrieb er so, wie er schrieb? Und welchen Aufschluß bietet das Werk über das Leben? Cantos Antworten lassen jedoch die Plausibilität vermissen, die Borges noch dem Unsinnigsten abgewinnen konnte.

Das liegt zunächst einmal weniger an der Autorin, als am Gegenstand. Wenn Borges' ×uvre „schon niemandes Eigentum mehr ist“, wenn es „der Sprache oder der Tradition angehört“, welchen Sinn ergibt es dann, nach den persönlichen Lebensumständen des Schriftstellers zu fragen? Was vermögen Liebschaften, Familienbeziehungen, Wohnverhältnisse oder gar sexuelle Probleme auszusagen, solange die Texte vorführen, daß die scheinbar unverbrüchliche Allianz von Werk und Person einem Irrglauben entspringt? Estela Canto macht sich also an eine von vornherein schwierige Aufgabe. Aufschlußreich könnte „Borges im Gegenlicht“ trotzdem sein. Denn über das kulturelle Leben am Rio de la Plata, über die Intellektuellenzirkel in den 30er und 40er Jahren und die Zeitschrift Sur gäbe es einiges zu sagen, über den aufkommenden Peronismus ebenso und über Borges' Konservatismus, der mitunter ins Reaktionäre kippte und damit nicht nur Pablo Neruda verstimmte. Doch Canto zeigt nur oberflächliches Interesse an politischer Analyse oder kultureller Topographie. „Ich habe etwas von einem Sherlock Holmes“, schreibt die einstige Borges-Verlobte, „es reizt mich, die tieferen Beweggründe meiner Mitmenschen zu ergründen. Mich reizt das Abenteuer, und das Ergründen einer menschlichen Seele ist ein großes und gefährliches Abenteuer.“ Dementsprechend blickt sie auf die Privatperson Borges, erzählt ausführlich von „Georgies“ Mutterkomplex, von Koitusangst und von der großen Bedeutung, die ihr im Leben des berühmten Mannes zukam: „Offenbar war ich damals für ihn der Nabel der Welt.“

Nur halbherzig lehnt sich Canto gegen die Konvention auf, die einer Frau in der Literatur höchstens die Rolle der Muse überließ. Zwar betont sie, ein eigenes, unabhängiges Leben geführt zu haben. Doch über ihre Romane und Erzählungen verliert sie kaum ein Wort. Um so ausführlicher diskutiert sie, warum Borges ihr die Erzählung „Das Aleph“ gewidmet hat.

Unfreiwillig entpuppt sich der Titel des Buches als Motto. Von einem Menschen im Gegenlicht sieht man nicht viel mehr als die Konturen. Und noch die bleiben bei Canto unscharf. Cristina Nord

Estela Canto: „Borges im Gegenlicht“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag Antje Kunstmann, München 1998, 228 Seiten, 38 DM

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