Zhu spricht kein Parteichinesisch

Chinas neuer Ministerpräsident Zhu Rongji begeistert sein Volk als Politiker „zum Anfassen“. Schnörkellos verkündet er die Umstrukturierung der Staatsbetriebe  ■ Aus Peking Georg Blume

So erträumt sich China eine Frau und ihren Führer: Sie hatte sich die kurzen Haare rot gefärbt und den schmalen Oberkörper ins goldene Seidenhemd gehüllt. So saß sie ruhig zu seinen Füßen und blickte mit devoten Augen zu ihm empor. Er trug zwar nur eine dunkelblauen Anzug mit grauer Krawatte, doch mit schroffer Gestik und betonungsreicher Sprache beherrschte er den ganzen Saal. Mit den Worten „Sie sind mein Idol“, drückte die Frau, eine Hongkonger TV-Schönheit, schließlich ihre Hingabe an den Mann aus. Dann fragte sie ihn noch: „Waren Sie jemals frustriert?“ Zhu Rongji erwiderte ausdauernd ihren Blick und sprach nun ganz leise: „Man hat mich den Gorbatchow Chinas genannt. Doch ich bin nicht glücklich darüber. Meine Aufgabe ist mühsam, und ich habe Angst, das Volk zu enttäuschen. Aber trotz aller Minen und Abgründe, die vor mir liegen, werde ich dem Volk bis zum letzten Tag meines Lebens dienen.“ Während die Frau dahinschmolz, explodierte im Saal der Jubel.

Die kleine Szene inmitten der großen Pressekonferenz zum Abschluß des Pekinger Volkskongresses sprach Bände über den Seelenzustand der Nation: China freut sich, wieder einen Führer zu haben, den das Volk anfassen und achten kann. Das war seit dem Solidaritätsbesuch Zhao Ziyangs bei den demonstrierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Mai 1989, der dem damaligen KP-Ministerpräsidenten die Karriere kostete, nicht mehr möglich gewesen.

Wer etwa hätte sich den Patriarchen Deng Xiaoping vor der versammelten Fernsehnation vorstellen können, wie er Fragen nach seinem Frust und Aussehen beantwortet? Zhu Rongji – bisher Vize- premier und graue Eminenz, seit Dienstag Premierminister der Volksrepublik – machte bei seinem ersten politischen Großauftritt genau das: „Ich sah mein Bild auf der Titelseite von Newsweek und von Time. Das erste Bild fand ich schöner, aber gut aussehen tue ich immer noch nicht.“ So einfach läßt sich den Chinesen mitteilen, daß sie einen Regierungchef bekommen haben, der in der Welt etwas gilt.

Die Fernsehdirektübertragung zählte zu den wichtigsten Neuerungen: Da konnten mandschurische Arbeiter und Bauern in Sichuan live verfolgen, wie die einst verteufelte ausländische Presse, dem neuen Spitzenmann ihre ungewohnten Fragen stellte: Nach seinem Schicksal in der Arbeitslagern der Kulturrevolution, das er dann doch lieber ausklammerte, und seiner Meinung von den Demokratiebefürwortern in Hongkong, denen er immerhin Demonstrationsfreiheit zugestand.

Eine Stunde lang erschien Zhu als der Politiker, für den ihn alle halten: konzentriert und zielstrebig, ohne Zeit für lange Erörterungen im Parteichinesisch. Sein Programm gab er schnörkellos vor: marktwirtschaftliche Umstrukturierung der bankrotten Staatsunternehmen innerhalb von drei Jahren, Reform der Banken noch in diesem Jahr und Halbierung der Zahl der Staatsangestellten bis zum Jahr 2000. Keiner wird mehr sagen können, die Ziele der chinesischen Wirtschaftsreformen seien verschwommen: Die „fundamentale Rolle des Marktes“ relativierte Zhu gestern nicht einmal durch die übliche Floskel von der „sozialistischen Marktwirtschaft“.

Nun hätte es an dieser Stelle weiterer Nachfragen bedurft: Wie etwa gedenkt die neue Pekinger Regierung mit der wachsenden Zahl der Arbeitslosen umzugehen? Wie ernst nimmt sie ihre Versprechen von der Einführung einer nationalen Sozialversicherung, nachdem die Staatsbetriebe ihre sozialen Sicherungsaufgaben zunehmend ablegen? Gibt es heute überhaupt noch eine chinesische Umweltpolitik?

Zhus Prioritäten liegen offensichtlich woanders: „Vor dem Hintergrund der formidablen Herausforderungen, die durch die Krise in Südostasien entstanden sind, müssen wir alles dafür tun, das Wirtschaftswachstum über acht Prozent und die Inflation unter drei Prozent zu halten. Außerdem darf unsere Währung nicht abgewertet werden.“ Wieder kann man dem Premier nicht vorwerfen, mit verdeckten Karten zu spielen.

Zhus eigentliche Bewährungsprobe aber steht erst dann bevor, wenn die Chinesen merken, welche Konsequenzen die neue Reformpolitik für sie hat – und welche Minen und Abgründe auch vor ihnen liegen. Schließlich arbeiten die meisten Staatsbetriebe heute noch – wenngleich auf Schulden der Regierung.