: Die „Klaukinder“ leben wie Leibeigene
■ Taschendiebstahl, „Kassengrabschen“, Nachläufertaten: In Berlin ist bei Straftaten rumänischer Staatsangehöriger der Anteil der Kinder sehr hoch
Neben Köln gilt Berlin als eine Hochburg der rumänischen Bandenkriminalität in Deutschland. Eine eigens gegründete Sonderkommission der Kripo versucht seit letztem Sommer, die Täter dingfest zu machen und die Strukturen aufzuklären. „Wir sind davon überzeugt, daß zwischen den im Bundesgebiet agierenden Banden eine sehr enge Verflechtung besteht“, erklärt der Leiter der Ermittlungsgruppe, Peter Preibsch. In Berlin seien bislang rund 600 rumänische Staatsangehörige, die ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in der Stadt leben, bei Straftaten in Erscheinung getreten.
Der Anteil der Kinder und Jugendlichen sei auffällig hoch. Besonders beliebt bei den Gruppen sei Taschendiebstahl, „Kassengrabschen“, bei dem im Supermarkt in die offene Kasse gegriffen wird, sowie sogenannte Nachläufertaten: Auf Post oder Bank würden zielgerichtet Opfer – mit Vorliebe ältere geh- oder sehbehinderte Menschen – beim Geldabheben ausgeguckt, verfolgt und in einem günstigen Moment beraubt.
Dafür, daß sich unter den Tatverdächtigen häufig Kinder befinden, hat die Kripo eine Erklärung. Die Kinder, die sich bei ihrer Festnahme selbst als „Klaukind“ bezeichneten, würden von Kinderbandenführern wie Leibeigene gehalten und zum Klauen geschickt. Preibsch weiß von der Existenz von mindestens zehn „Bossen“ mit jeweils drei bis fünf Kindern. Die Minderjährigen müßten im Monat 15- bis 30.000 Mark durch Taschendiebstähle und Einbrüche erbeuten. Unter den Banden im Bundesgebiet würden die Kinder für Ablösesummen bis zu 20.000 Mark gehandelt. „Die Kinder wissen, daß sie, soweit sie unter 14 sind, strafunmündig sind und in Deutschland nur Angst vor ihren Kinderbandenführern haben müssen“, sagt Preibsch. Das werde ihnen mit Schlägen und Folter, mit Rasierklingen und brennenden Zigaretten sowie der Androhung von sexuellem Mißbrauch nachhaltig eingebleut. „Das sind keine Gewaltphantasien der Kripo“, so Preibsch, „sondern Erfahrungen der Jugendbehörden.“
Die Berliner Senatsjugendverwaltung will nun versuchen, die Kinder dazu zu bringen, sich von ihren Bossen loszusagen und freiwillig nach Rumänien zurückzukehren. Eine entsprechende Vereinbarung zur „Zurückführung“ der Kinder wurde Mitte März von Regierungsbehörden in Bukarest unterzeichnet. Eine noch zu gründende Stiftung soll mit von der Arbeiterwohlfahrt beigesteuerten Mitteln die Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen und eine Ausbildung ermöglichen. Plutonia Plarre, Berlin
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