: Zwischen Autoscooter und Schach
Martin Schuth aus Ulm spielt Rollstuhl-Rugby in der Nationalmannschaft und will mit dem rauhen Sport keineswegs ins „Gesundheitsmagazin“, sondern ins „Aktuelle Sportstudio“ ■ Von Albert Hefele
Wenn man so will, hat es Martin Schuth einem Badeunfall zu verdanken, daß er heute Nationalspieler ist. Wobei verdanken nicht unbedingt das richtige Wort ist. Der Ulmer Martin Schuth empfand sicher keinerlei Dankbarkeit, als er beim Sprung in einen Baggersee auf etwas sehr Hartes aufschlug, das ihm die Wirbelsäule zertrümmerte. Genauer gesagt Segmente der Halswirbelsäule, noch genauer unterhalb c6/c7. Das bedeutet: Die Nervenbahnen, die vom Rückenmark aus die vier Extremitäten versorgen, sind betroffen. Der Fachausdruck heißt Tetraplegie, und das wiederum bedeutet Rollstuhl. Seit 24 Jahren.
Wenig Grund, dankbar zu sein; stolz vielleicht. Darauf, daß man es geschafft hat, das riesige schwarze Loch zu überwinden, das sich nach einer solchen Katastrophe auftut. Sich nicht umzubringen, sondern ein neues, völlig anderes Leben in Angriff zu nehmen. In einer Welt für Fußgänger, „die uns behindert macht“, wie es Martin Schuth formuliert. Weil sie nicht, oder nur selten, auf Rollstuhlmenschen eingerichtet ist. Und die dermaßen Behinderten schon allein darum nicht eben liebt, weil sie nicht dem bis zum Erbrechen postulierten Ästhetik- und Schönheitsideal entsprechen. Wie auch wenn erwachsene Menschen schon wegen einer schiefen Nase oder ungleichmäßiger Zähne zum Chirurgen rennen. Außerdem führen sie uns in unappetitlicher Kraßheit vor, was jedem von uns mit etwas Pech blühen könnte. Das Ende von Rundum-Fitneß und grenzenloser Mobilität. Auch das Ende eines lebenswerten Lebens? Martin Schuth ist ganz und gar nicht dieser Meinung: „Das wichtigste Organ des Menschen ist immer noch der Kopf.“ Der hat im Falle Schuth nichts abgekriegt und entschieden, die Probleme in den Griff zu kriegen. Heute führt er ein selbständiges Leben mit Beruf, Wohnung und Auto; er ist der erste Rollstuhlfahrer Deutschlands mit einer Fluglizenz und Nationalspieler im Rollstuhl-Rugby. Martin Schuth ist sicher eine Ausnahme, was seine Anpassungsfähigkeit und Willensstärke angeht, ein Einzelfall ist er nicht.
Beim dritten Bundesligaspieltag der Rugby-Rollis, der Mitte Dezember in Ulm stattfand, war die Halle der „Donau-Haie“ voll mit zum Teil schwerst Behinderten. Die sich offenbar dazu entschlossen haben, ihr Leben nicht im Schlupfsack zu verdämmern. Keine Spur von „sich betütteln lassen“ oder mitleidhaschender Wehleidigkeit. Ganz im Gegenteil, wenn die wenigen und schnellen Sportrollstühle aneinandergeraten, kracht es ganz schön. Wolfgang Mayer, der die weite Anfahrt von Bayreuth auf sich nimmt, um bei den Ulmern mitzumachen: „Manchmal ist es ganz gut, wenn man nichts spürt.“ Auch nicht funktionierende Nervenbahnen können ihre Vorteile haben.
Dabei ist Wolfgang Mayer einer, der noch relativ viel spürt. Ein Drei-Punkte-Spieler. Es gilt: je geringer die Behinderung, desto mehr Punkte. Von 0,5 bis 3,5. Eine Mannschaft hat vier Spieler, und es dürfen nie mehr als acht Punkte auf dem Feld stehen bzw. sitzen. Eine Einschränkung der oberen Extremitäten ist sozusagen Pflicht. Läsionen im Halswirbelbereich, Polio, Amputationen. Wer den Schultergürtel, Arme und Hände uneingeschränkt bewegen kann, darf nicht Rugby spielen. Wohl aber ein 0,5er, der nicht in der Lage ist, einen Ball zu fangen. Martin Schuth sagt: „Es gibt Spieler, die während des gesamten Spiels so gut wie keinen Ball kriegen. Trotzdem können sie eine entscheidende Rolle spielen, weil es wesentlich auch darum geht, dem Ballführenden den Weg freizublocken.“ Die Behinderung als strategisches Mittel und zusätzliche Komplikation für den Mitspieler. Denn: „Ich muß nicht nur die Positionen meiner Mitspieler beobachten, ich muß auch ständig den Grad ihrer Behinderung parat haben. Was kann ich ihm zumuten? Wie schnell ist er? Kann er mit einer Hand oder mit beiden fangen oder gar nicht?“
Für Martin Schuth ist Rollstuhl- Rugby eine Mischung aus Autoscooter und Schach. Eine beachtliche Anforderung nicht nur für den Kopf – auch für die Physis. Ein Spiel dauert mit allen Unterbrechungen und Auszeiten ungefähr eineinhalb Stunden. Nur zur Erinnerung: Die meisten Spieler haben keine Fingerfunktion und nur eine eingeschränkte Armfunktion. Nicht umsonst verbringt Reiner Schneider aus Langenau jeden Tag zwei Stunden an den Hanteln. „Vor wichtigen Spielen auch schon mal acht“, weiß Martin Schuth, der wie Schneider ein 1,5-Punkte-Spieler ist. Und: „Wir müssen im Vergleich zu einem ,Fußgänger‘ über die Fitneß eines Leistungssportlers verfügen, um diesen Sport ausüben zu können.“ Und den Alltag souveräner bewältigen. Wer in einer Mannschaft spielt, seien es die „Ulmer Donauhaie“ oder die deutsche Nationalmannschaft, kommt herum, lernt Behinderte und Fußgänger kennen. Lernt Probleme zu meistern, als Herausforderung zu begreifen.
Die nächste große Herausforderung für Martin Schuth ist die Qualifikation mit der Nationalmannschaft (Dritter der Europameisterschaften in Holland) für die Paralympics in Sydney. Denn obwohl Rollstuhl-Rugby natürlich auch eine soziale Komponente hat, geht es in erster Linie um Sport. Keine Frage für Martin Schuth: „Schließlich wollen wir nicht ins ,Gesundheitsmagazin‘, sondern ins ,Aktuelle Sportstudio‘.“
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