: Das geheime Drehbuch späterer Dramen
Wer war Harry Smith? 1952 veröffentlichte er die „Anthology of American Folk Music“, die später zur Bibel des Folk-Revivals avancierte. Womit sich die demokratische Linke eine Vergangenheit erfand, steigt als CD-Set zum kanonisierten Kulturgut auf ■ Von Klaus Frederking
Wer hat jemals von Harry Smith gehört? Nur wenige waren es jedenfalls vor sieben Jahren, als ein hutzeliger, alter Mann auf das Podium und, zum ersten Mal in seinem Leben, ins Rampenlicht der Medien schlurfte, um einen Spezial- Grammy für seine „besonderen Verdienste um die Musik“ entgegenzunehmen.
Seine historische Bedeutung als Musiker war in der Tat begrenzt: Mitte der 60er Jahre warf er in einem New Yorker Studio eine Weinflasche an die Wand, um der Performance der Spaß- und Politfolk-Combo The Fugs ein wenig Temperament einzuimpfen. Auch in den anderen Bereichen, in denen er sich tummelte, war Smith eher eine Randfigur. Man muß schon Detaildarstellungen der Beatnik-Boheme der 50er Jahre wälzen, um auf seinen kreativen Beitrag zum psychedelisch infizierten Flügel der Kunstavantgarde zu stoßen. Greil Marcus, die Galionsfigur der amerikanischen Popkulturkritik, charakterisiert ihn als „legendären Filmemacher und noch legendäreren Schmarotzer“.
Kaum einer, der ihm bei der Verleihung des Grammy applaudierte, hatte das Artefakt, das ihm zur begehrtesten Auszeichnung der amerikanischen Musikindustrie verhalf, jemals zu Gesicht bekommen. Dennoch war die Preisvergabe unumstritten. Denn wenige Platten haben tiefere Spuren in der Geschichte der populären Musik hinterlassen als die drei Doppelalben, die Harry Smith aus seiner gleichermaßen legendären Schellacksammlung zusammengestellt hatte und welche die New Yorker Hinterzimmerfirma Folkways 1952 als „Anthology of American Folk Music“ veröffentlichte.
Auf ihr versammeln sich Aufnahmen aus den späten 20er und frühen 30er Jahren: Balladen von Meuchelmord und tragischer Liebe, Lebensbeichten von sündigen Wanderarbeitern, Klagen von einsamen Blues-Barden. All dies wirkt heute angestaubt – und zugleich auf merkwürdige Weise vertraut. Melodien und Textfragmente kommen einem so bekannt vor, daß man gar nicht zu sagen vermag, woher: Ist's ein Dylan- Song oder einer von Neil Young? Oder ein Fragment auf der CD „Odelay“ von Beck?
Ihr songschreiberisches Vokabular, und das von unzähligen anderen, wurde von dem Repertoire der Box geprägt, direkt oder indirekt. „Die ,Anthology‘ zu hören“, schreibt Elvis Costello in dem von Prominentenzitaten überquellenden Beiheft zur kürzlich erschienenen CD-Neuausgabe, „ist, als ob man das geheime Drehbuch zu unzähligen bereits bekannten musikalischen Dramen entdeckt. Viele von ihnen erweisen sich als Vettern zweiten oder dritten Grades, und einige wurden vermutlich in Unkenntnis der ursprünglichen Quellen in die Welt gesetzt.“
Die Bedeutung der „Anthology“ liegt denn auch bis heute weniger in der Musik selbst als in ihrer kulturellen Wirkung auf die Nachwelt. Zunächst erreichte sie nur eine Auflage von wenigen hundert. Ein Jahrzehnt später jedoch mutierte sie zu einer Art Bibel des Folk-Revival. Was aber hat Legionen von SängerInnen und SongschreiberInnen dazu verleitet, Wahlverwandtschaften mit Volksmusikanten aufzubauen, von denen sie wenig mehr kannten als den Namen und die sie erst noch in einem 500-Seelen-Dorf in den Appalachen oder dem Mississippidelta aufstöbern mußten? Was trieb sie dazu, Lieder über das Trällern eines Kuckucks oder das Hämmern eines Eisenbahnarbeiters Note für Note nachzusingen, so als würde ihnen dadurch die Offenbarung zuteil?
1965, im Jahr von „Mr. Tambourine Man“, machte sich Richard Faria, der neben Dylan als größtes Talent der Folk-Szene galt, selbstkritische Gedanken: „Die Folk Music verleitete uns zu gewissen Sympathien für und nostalgischen Allianzen mit der sogenannten traditionellen Vergangenheit: die 30er Jahre! Die Highways und offenen Landstraßen! Die Berge des Südens! Der Blues! Gewerkschaften! All dies hinterließ seine Spuren – so als ob Chuck Berry und Batman mit unserem Leben nichts zu tun hätten.“
Diese romantische Verklärung bediente sich eines Objekts, das bereits bei seiner Entstehung ein ideologisch-kulturelles Konstrukt darstellte. Das Konzept der „Folk Music“ war, überspitzt formuliert, eine Erfindung der intellektuellen Linken: einfache Lieder von und für die folk, die einfachen, ehrlichen, sauberen Menschen, die von der eigenen Hände Arbeit lebten.
Mit neuen Texten versehen, diente sie als Propagandainstrument der demokratischen Allianz gegen das Großkapital sowie gegen gierige Händler und Finanzhaie, die den folk das ehrlich verdiente Geld aus der Tasche stahlen. Dieses sozialistisch eingefärbte Sentiment der 30er Jahre paarte sich mit einem anderen Motiv, das in Krisenzeiten immer wieder an die Oberfläche des öffentlichen US-Bewußtseins blubbert: dem Rekurs auf die vermeintlichen Ideale der Pilgerväter und Republikbegründer. In ihrem Land der freien, gleichen Bauern, Handwerker und Viehtreiber sollte nun auch Platz für die Enkel der schwarzen SklavInnen sein. Ihnen gegenüber hatte man ein schlechtes Gewissen, sie waren folglich auch folk und sangen „Folk Blues“ – im Gegensatz zur Klezmer-Musik der jüdischen Immigranten und den Corridos der hispanischen Minderheit im Südwesten. Das lief dann unter „Ethnic Music“.
Nach dem Krieg, als der Zeitgeist nach rechts pendelte, überwinterten die alten Kämpfer mit Hilfe ihrer „People's Music“. Die erschien allerdings den folk selbst spätestens jetzt als hinterwäldlerisch. Sie bevorzugten nämlich angejazzten Western Swing, Rhythm and Blues, Schlagzeug und – o Graus! – elektrisch verstärkte Gitarren.
„Folk Music“ feierte jedoch fröhliche Urständ, als Teile der städtischen Mittelschichtjugend „sich auf die Suche nach dem wahreren Amerika begaben“, wie einer der Protagonisten des Revivals in dem CD-Booklet schreibt. In dem Essay von Jon Pancake häufen sich die Schlüsselwörter der Folk-Mentalität: „Diese verlorenen, archaischen, wilden Klänge schienen eine auf besondere Weise amerikanische Bedeutung zu haben.“
Das Folk-Revival formulierte den Grundkonsens einer Strömung, die seither, in wechselnder Kleidung, die Pop- und Jugendkultur durchzieht: die puritanische Idee der „Authentizität“. Sie wird, logisch schwer nachvollziehbar, mit „Ursprünglichkeit“ identifiziert. Musik, die diese Eigenschaften besitzt, ist bevorzugt akustisch (also ungefährlich und nett), eindeutig (nicht schillernd), sauber (nicht zu erotisch) und unverdorben (wer damit Geld verdient, sollte das nicht zu laut sagen).
In den letzten Jahren haben die Bannerträger des Authentischen ein neues Schlachtfeld für sich entdeckt: „World Music“ und alles andere, dem das Etikett „Roots“ angeheftet werden kann. Die Folk Music dagegen erfährt mit der im übrigen kommerziell äußerst erfolgreichen Wiederveröffentlichung der „Anthology“ auf sechs unnötig teuren CDs ihre endgültige Kanonisierung zum anerkannten Kulturgut. Die Nachkriegsgeneration, die seinerzeit mit diesen Liedern auf den Lippen gegen die Mauern des Establishments anmarschierte, hält nun selbst die Zügel der Macht in ihren Händen. Harry Smith war ein Kiffer, Bill Clinton auch. Und Bob Dylan singt für den Papst.
„Anthology of American Folk Music“. 6-CD-Box. Erschienen bei Smithsonian/Folkways, Vertrieb: Koch International
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