Es darf ruhig etwas mehr sein

Frühjahr, Sonnenschein. Am Kiosk quellen die Regale über: Windhunddiät, Spargeldiät, Ananasdiät, schreien die Titelseiten. Für die Verlage jedes Jahr ein dickes Geschäft, für die Abspeckwilligen ein Riesenfrust. Kaum ist die Diät gemacht, wuchern die Pfunde. Jo-Jo-Effekt nennt die Wissenschaft die unangenehme Tendenz der Fettzellen, sich nach karger Kost sofort wieder aufzublähen. Die Psychologie erklärt das Phänomen anders: Diät macht keinen glücklich. Und wer unglücklich ist, ißt mehr. Nicht nur Frauen unterziehen sich der Selbstkasteiung. Auch Männer leiden und hungern mit.

Nur wer schlank ist, gilt als leistungsbereit. Nur wer leistungsbereit ist, wird gesellschaftlich akzeptiert. Dabei sind die Molligen in der Überzahl. Aber wie dem Terror entgehen? Etwas mehr Liebe zum Bauchspeck

fordern Uta Andresen und Jan Feddersen

Also der alte Trick. Sitzt da in dieser Bar. Zieht den Bauch ein, rutscht vor bis an die Stuhlkante und stützt sich gekonnt lässig auf den Tisch. Mit beiden Unterarmen. Natürlich nicht lässig, sondern verdammt unbequem das Ganze. Aber wie soll man schon anders sitzen, wenn die Jeans eingelaufen ist und abends nun einmal nur für Spaghetti mit Sahnesauce Zeit war?

Ein Blick in die Runde zeigt es erbarmungslos: Wer so sitzt, hat etwas wegzudrücken. Ein beachtliches Bäuchlein, wie der Typ zwei Tische weiter. Einen stattlichen Allerwertesten, wie die blonde Mittvierzigerin in der Ecke. Zwangshaltung, nennen die Psychologen das. Muskelstarre, um im öffentlichen Balzrevier der Bar eine Chance zu haben. Wenigstens eine klitzekleine.

Dabei ist klar: Bäuchlein und Allerwerteste – die haben einfach verdammt schlechte Karten. Auch das sagen uns die Psychologen. Anziehend und chic ist schlank und rank und sportlich durchtrainiert. Nur wer fit ist, darf Fun haben. – Siegesgewiß robbt die Blonde auf ihrem Stuhl wieder nach hinten, entspannt die Bauchmuskeln, atmet gelassen durch. So. Vergiß doch bloß all diese Ich-will-so-bleiben- wie-ich-bin-Figuren. Was Properes ist doch auch mal nett! Oder?

Wer zuviel auf die Waage bringt, leidet. „Dickere Menschen haben größere Schwierigkeiten bei der Partnersuche“, sagt Joachim Westenhöfer, Ernährungspsychologe aus Hamburg. Und das, obwohl nur zehn Prozent aller Frauen und Männer in Deutschland den als Schönheitsideal empfundenen Body-Mass-Index von 19,5 (bei Frauen) und 21 (bei Männern) erfüllen. Dieser errechnet sich aus Kilo Lebendgewicht, geteilt durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat, Quadratmeter sozusagen. Das heißt: Eine Frau, die 1,65 Meter groß ist und 60 Kilo wiegt, hat einen Body-Mass-Index von 22. Also ziemlich gut. Was man von den meisten nicht behaupten kann.

Warum aber diese Huldigung den Schmalen, wenn doch neunzig Prozent der Bevölkerung zu eher üppigen Formen neigen? Ein „Paradoxon der Überflußgesellschaft“ nennt Westenhöfer dieses aufs schier Unerreichbare abgemagerte Schönheitsideal. Als Ideal bilde sich nun einmal das heraus, was gerade nicht Realität sei. In der Dritten Welt sind es gutgenährte, runde Körper, in der Wohlstandsgesellschaft abgehungerte, hagere Schlakse. Ist das vermeintliche Ideal erst einmal entdeckt, wird es rasch durch die Medien und vor allem mit Hilfe der Werbung betoniert. „Überall werden wir mit schlanken, schönen und jungen Leuten traktiert, da ist es nicht mehr weit zu der Idee – mager gleich sexy“, sagt Westenhöfer.

Und so versuchen vor allem Frauen, sich einer Wespentaille entgegenzuhungern. Achtzig Prozent der Frauen, haben Psychologen herausgefunden, wollen abnehmen. Und das, obwohl sie mindestens ebenso gern essen. Daß diese Hungertrips nur höchst selten von dauerhaftem Erfolg gekrönt sind, scheint nicht abzuschrecken: Bekannte Diätfanatikerinnen wie die amerikanische Sängerin Karen Carpenter – die an Herzversagen infolge steter Fehlernährung starb – zeigen, daß Wiederholungstäter eher die Regel als die Ausnahme sind. So springen uns denn auch seitenweise Diäten an, in Frauenmagazinen und Ratgeberheftchen. Herbstdiät, Frühjahrsdiät, Spargeldiät, Fasten – dem Diät-Wahn zu entkommen ist kaum möglich.

Das war nicht immer so. Im Altertum war zwar bereits das Wort Diät bekannt, verstanden wurde darunter aber etwas völlig anderes: Der lateinische Begriff bedeutet so etwas wie „gute Lebensführung“. Von Dünn-werden-Müssen keine Rede. Üppige Körper waren in. Denn Kinder von dünnen Frauen hatten geringere Überlebenschancen. Nur Mütter mit dicken Brüsten konnten ihre Sprößlinge ausreichend stillen. In Niederösterreich wurde 1908 eine 27.000 Jahre alte Kalksteinplastik gefunden, die „Venus von Willendorf“ – ein Fruchtbarkeitssymbol mit mehr als üppigen Formen. Also: Prall war anbetungswürdig, nicht mager. Dieses Bild hielt sich über Jahrhunderte. Der flämische Maler Peter Paul Rubens bannte das Schönheitsideal des beginnenden 17. Jahrhunderts auf Leinwand. Dralle Taille, kräftige Arme, dicke Beine.

Bis zum Beginn der Aufklärung, Ende des 18. Jahrhunderts, blieb die vorherrschende Meinung: Wer beleibt war, gehörte zur Oberschicht. Das einfache Volk dagegen mußte seine Ernährung den Jahreszeiten anpassen. Im Frühjahr, wenn die Erntevorräte zu Ende gingen, waren karge Zeiten angesagt. Dann wurde vom Winterspeck gezehrt. Wenn es denn ausreichend zu essen gab, wurde gestopft, was in den Magen hineinpaßte. Was da so auf den Tisch kam, kann heute höchstens noch Vollwertköstler begeistern: „Im Lande Hadeln“, schrieb der Chronist Johann Friedrich Osiander Mitte des 18. Jahrhunderts über eine Elbregion nahe der Nordsee, „essen die Landleute vier- bis sechsmal am Tage aus Roggenmehl, Salz und Wasser bereitete Klütchen, bei deren Genuß sie zu kräftigen Menschen heranwuchsen.“

Die Wende in puncto Idealgewicht brachte die Industrialisierung. Vollgefressene Menschen schliefen lieber, als daß sie arbeiteten. Der moderne Industriearbeiter sollte schlank und leistungsbereit sein. Folglich wurden die Mahlzeiten reguliert.

Unter den Nationalsozialisten galten Dicke gar als Schaden für die Volksgesundheit. „Flink wie Windhunde und hart wie Kruppstahl“ wollten die Nazis den Deutschen haben. Weiche, runde Gemütsmenschen paßten nicht zum arisch-aggressiven Volkskörper.

Noch in den fünfziger Jahren galt der moppelige Ludwig Erhard – verklärt als Vater des Wirtschaftswunders – als Prototyp des gemütlichen Dicken. Und als Paradebeispiel für einen, der es geschafft hatte. Hieß doch die eigentliche Devise der Nachkriegsgeneration „Nie wieder hungern!“.

Die entscheidende historische Zäsur brachten aber die sechziger Jahre. Lebensmittel gab es zumindest in Westeuropa im Überfluß, Hunger war ein Fremdwort. Und so kam es zur Gegenbewegung: Die Designerin des Minirocks, Mary Quant, schaffte mit ihrem Modell Twiggy ein neues Kultobjekt, die magere Frau.

Die Popkultur ließ keinen Platz für runde Bäuche und ausladende Hüften. Jungsein war in. Gemütlichkeit out. Barbie eroberte die Kinderzimmer und lehrte die Mädchen frühzeitig, daß sich ein Frauenleben zwischen Kühlschrank und Badezimmerwaage abspielt. Besonders wirksam seien Maßstäbe wie Barbie oder Twiggy deshalb, weil sie eben unerreichbar seien, sagt Maria-Elisabeth Lange-Ernst, Autorin des Buches „Stop den Schlankheitswahn“.

Warum es nur wenigen vergönnt ist, eine Figur wie die Magerpuppen zu erreichen, hat die Ernährungspsychologie weitgehend geklärt. Eßverhalten ist ein kompliziertes Gefüge aus angeborenen und angelernten Reaktionsmustern. Im Kleinkindalter überwiegt noch das angeborene Repertoire, haben Psychologen schon in den zwanziger Jahren festgestellt. Was und wieviel ein Kind ißt, bestimmen die Instinkte. „Kleinkinder ernähren sich optimal, wenn man sie läßt“, sagt Ernährungspsychologe Westenhöfer. Voraussetzung ist allerdings ein ausgewogenes Angebot und Geduld, denn ein paar Tage Nudelexzesse können schon mal drin sein.

Doch kaum ist der Esser auf der Welt, setzt auch schon ein Lernprozeß ein. Der beginnt mit dem ersten Stillen. Muttermilch ist warm, süß, fettig. Also wird der Konsument diesen Mix zeit seines Lebens als angenehm empfinden – und je nach Stimmung – danach schmachten.

Mit den Jahren verblassen die Instinkte. Beim Jugendlichen schon überwiegt die „kognitive Komponente“. Diese ist die Quintessenz aus sämtlichen Lernerfahrungen rund ums Essen. Die Botschaften werden im Unterbewußtsein als Lehrsätze deponiert. Etwa: „Gutes Essen muß fett sein“, wenn zu Hause sonntags oder an Feiertagen fettes Essen auf den Tisch kam. Oder: „Gutes Essen muß nach Tomate, Weißbrot und Bulette schmecken“, wenn man mit der Clique jeden Nachmittag bei McDonald's einlief.

Überhaupt prägen Gleichaltrige, also die Peer-Group, das Eßverhalten viel stärker als das Elternhaus. Was und wieviel jemand ißt, hat er also über Jahre, Tag für Tag mit mehreren Mahlzeiten trainiert. Ein Grund dafür, warum die meisten nach einer Diät wieder dem alten Eßtrott verfallen. „Da wirken starke, verfestigte Strukturen, die sich nur schwer aufbrechen lassen“, sagt Westenhöfer.

Doch Essen ist mehr als Verhalten. Essen ist Lust. Das weiß jeder, der einem sahnigen Mousse au Chocolat nicht widerstehen kann. Essen schmeckt. Und es verschafft dem Körper Wohlgefühl. Satt. Zufrieden. Nach dem Essen stellt sich eine leichte, kuschelige Müdigkeit ein.

Verantwortlich dafür sind Botenstoffe in der Nahrung, die unsere Stimmung günstig beeinflussen. Schokolade ist Nervennahrung. Genauer müßte es heißen: Der Zucker in der Schokolade treibt unseren Serotoninspiegel in die Höhe – und der wiederum läßt ein diffuses Glücksgefühl im Körper aufwallen. Schon mal jemanden griesgrämig vor einem Becher Kakao mit Sahne hocken sehen? Weil der Serotoninspiegel in unserem Gehirn vom Tageslicht abhängig ist, steigt der Süßigkeitenkonsum übrigens im Winter (Weihnachten!) und läßt im Sommer nach.

Essen verursacht ähnlich starke Lustgefühle wie Sex. Wenn Mickey Rourke in dem Chic-Strip-Streifen „9 1/2 Wochen“ Kim Basinger den honigbeträufelten Bauchnabel abschleckt, weiß jeder: Hier geht es um Lust und um Laster.

Über Essen als Ersatzhandlung wissen Psychologen bislang nur wenig. Belegt ist, daß der Körper bei Trauer oder Streß auf Appetitlosigkeit umschaltet – umschalten sollte. Da paßt nichts mehr rein. Wer jedoch Kummerspeck ansetzt, bei dem versagt das natürliche Reaktionsmuster. „Man kann es sich antrainieren, bestimmte Gefühle mit Essen zu beantworten“, sagt Westenhöfer. Wer früher bei Kummer von der Mutter einen Bonbon als Trostpflaster bekam, wird auch später bei Liebesleid oder Jobfrust zur Schokolade greifen.

Doch Essen ist mehr als Trost. Es macht schlicht Spaß. Warum das so ist, hat unter anderem einen anthropologischen Grund: Essen ist ein sozialer Akt. „Das hat viel mit Kommunikation zu tun“, sagt Westenhöfer. Die Mahlzeiten strukturieren den Tag, die Familie trifft sich am Tisch. Es wird geredet, gestritten, gelacht. – Mit der Single- Gesellschaft der achtziger und neunziger Jahre lösen sich diese Strukturen allerdings auf. Man ißt allein – und meist nebenbei. „Grasing“ nennen Psychologen das kontinuierliche Mampfen während der Arbeit oder beim Fernsehen. Wer nicht einsam essen will, muß seine Mahlzeit dieser Tage schon inszenieren: Man geht mit der Freundin essen oder lädt zum Kochen ein.

Gerade im Restaurant zeigt sich: Essen signalisiert auch Status. In manchen Kulturen war Fleisch als kraftspendende und eiweißreiche Luxusnahrung den Männern vorbehalten. Essen zeigt, zu welcher Gruppe man sich zugehörig fühlen möchte. Du bist, was du ißt. Westenhöfer empfiehlt ein kleines, psychologisches Experiment: „Gehen Sie mal mit 'ner Pommestüte in einen Bioladen und warten dann ab, was passiert.“ Die günstigenfalls abschätzigen Blicke dürften klarmachen: Nahrung ist auch Sozialprestige, muß mit Geschmack nicht unbedingt etwas zu tun haben. Ob Austern im Restaurant oder Currywurst an der Ecke. „Oft wird erst unter sozialem Druck etwas als schmackhaft empfunden“, sagt Westenhöfer. Zum Beispiel Kaffee. Das bittere Gebräu schmeckt kaum einem Süchtler beim ersten Mal. „Anfänger erkennt man daran, daß sie Kaffee nur mit viel Milch oder Zucker trinken.“ Doch dann lernt man, daß Kaffee aufmuntert, weil er den Serotoninspiegel erhöht. Mit jedem Schluck mehr funkt das Gehirn, daß es mit der schwarzen Plörre etwas Leckeres auf sich hat. Die Gewohnheit entscheidet darüber, was wir mögen. „Wir lernen Dinge lieben, die wir häufig antreffen“, sagt Westenhöfer. So bilden sich auch verschiedene Eßkulturen heraus. Der Chinese liebt Reis, weil das Korn in seinem Land nun einmal prima gedeiht. Hier ist es die Kartoffel. Psychologen nennen dies den „mere-exposure-effect“.

Die meisten Frauen (80 Prozent) und die Hälfte aller Männer versuchen, ihr Lebendgewicht durch Selbstverbote unter Kontrolle zu bringen. Diesen Pudding ess' ich nicht. Treuer Begleiter eines gezügelten Essers ist die Badezimmerwaage. Dabei ist das ganze Tamtam mit Diäten und Schoko-Abstinenz zum Scheitern verurteilt. Kommt der Streß, bricht das Selbstkontrollsystem zusammen. Die Folge ist ein „Jetzt erst recht“. Wahllos wird in sich hineingestopft, was der Magen faßt. Danach kommt das schlechte Gewissen.

Dicke Menschen mit einem Body- Mass-Index von 30 oder mehr, die nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein gesundheitliches Problem haben, demonstrieren: Streß und rigide Selbstkontrolle erzeugen Übergewicht. Wer ein falsches Eßverhalten hat, wird zu dick. Wer zu dick ist, wird gesellschaftlich diskriminiert. Also mehr Streß und mehr Essen.

Für das (Weibs-)Volk der gezügelten Esser und Diät-Frustrierten sieht Westenhöfer nur eine Lösung. Weg mit der strengen Selbstkontrolle. Wer auf Schokolade steht, sollte sich eben zwei Tafeln pro Woche gönnen – ohne schlechtes Gewissen. Das flexible System soll helfen, Streß und damit Frustessen zu vermeiden.

Auf lange Sicht gibt es nur ein wirksames Mittel, den Speck loszuwerden: in Gemeinschaft essen. Zeit und Muße fürs Essen nehmen, möglichst im sozialen Kontext, empfehlen Ernährungspsychologen. Essen als soziales Ereignis. Schließlich sind Mitesser auch ein Korrektiv. Da wird gegessen, was auf den Tisch kommt, und nicht immer nur die Leibspeise. Vor allem wird vor den Augen anderer nicht geschlungen und gestopft.

Essen ist nicht nur eine Frage des Verhaltens. Sondern auch der Einstellung. Die Properen sind in der Überzahl – gemütlich, fröhlich, rosig. Die anderen sind spaddelig, muffig, grau vor Kalorienzählen. Rubens hätte sich doch die Finger nach uns geleckt. Und haben nicht Untersuchungen gezeigt, daß Männer und Frauen normale Gesichter und Formen bevorzugen, wenn sie sich verlieben?

Da, er betritt die Bar. Ein Bild von einem Mann. Dieser muskulöse, schlanke, biegsame Körper! Schwupp, hievt sie sich zurück in Zwangshaltung.