: Das Haus des Eigensinns
Berlin, Tiergartenstraße 4. Von hier aus steuerten die Nazis das, was sie Euthanasie nannten: den massenhaften Mord an Behinderten für medizinische Zwecke. Nun fordern Psychiatrie-Erfahrene an dem historischen Ort eine Gedenkstätte. Und die Herausgabe der Prinzhorn-Sammlung, 6.000 Bilder und Skulpturen, die von Psychiatrie-Patienten bis zur NS-Zeit geschaffen wurden. Noch lagern die Werke in der Unipsychiatrie Heidelberg. Widerrechtlich? ■ Von Uta Andresen und Petra Lutz
Wer nicht weiß, wonach er suchen soll, hat keine Chance. Die Messingplatte fügt sich so unauffällig in das Betonpflaster der Bushaltestelle, daß man achtlos über sie hinwegläuft. „Ehre den vergessenen Opfern“, ist in das Metall eingeritzt. Wo heute Busse vor der Berliner Philharmonie halten, stand noch bei Kriegsende eine Villa. Die Tiergartenstraße 4 war mehr als eine Adresse im ehemals noblen Berliner Zentrum. Sie stand für den ersten Massenmord der Nazis – die Euthanasie. Mit diesem Wort redeten NS-Ärzte die Ermordung von psychisch Kranken und Behinderten schön.
„Bescheidener kann ein Denkmal nicht sein, oder?“ Was René Talbot, ein Mann mit einer randlosen Brille, sieht, ist ein mächtiger Aluminiumrundbau auf Stelzen. Das „Haus des Eigensinns“. Talbot ist Sprecher einer Initiative von Wissenschaftlern und Prominenten, die an dem Standort der einstigen Euthanasiezentrale eine Gedenkstätte aufbauen wollen.
Neben einem historischen Teil soll in der Gedenkstätte die „Prinzhorn-Sammlung“ zu sehen sein. Eine Kollektion moderner Kunst, zusammengesucht in den zwanziger Jahren von dem Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn. Die Künstler waren ausschließlich Psychiatrie- Patienten. Ihre etwa 6.000 Bilder und Skulpturen, Gedichte und Kompositionen lagern zur Zeit in den Magazinen der Heidelberger Universitätspsychiatrie.
Dort jedoch will man die Sammlung behalten. Die Gelder für ein Prinzhorn-Museum sind schon bewilligt. Der Leiter der Psychiatrie, Christoph Mundt, kann der Berliner Initiative nichts abgewinnen: „Wir haben die Sammlung initiiert und großgemacht.“ Jetzt, wo sie Bedeutung erlangt habe, wolle man sie sich nicht wegnehmen lassen, sagt er.
Heidelberg oder Berlin? Ist es nicht gleich, wo die 6.000 Kunstwerke einmal zu sehen sein werden? Was wie ein kleinlicher Streit erscheint, ist in Wirklichkeit ein Konflikt um Besitzansprüche, einer um die Geschichte der deutschen Psychiatrie und um den gesellschaftlichen Umgang mit „Durchgeknallten“, wie Talbot sagt.
Die Initiative „Haus des Eigensinns“ betrachtet die heutigen Psychiatrie-Erfahrenen als legitime Erben der Prinzhorn- Sammlung. Die damaligen Künstler wurden eingesperrt und entmündigt, später enteignet. Einige wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Natürliche Erben gibt es nicht. Zumindest moralischen Anspruch auf ihre Werke könnten die Psychiatrie-Patienten von heute erheben. Denn auch sie wären vor fünfzig Jahren der Euthanasie zum Opfer gefallen. René Talbot findet, die Psychiatrie-Erfahrenen von heute seien „Zeugen zweiten Grades“.
Über 200.000 Anstaltsinsassen wurden zwischen 1940 und 1945 ermordet. Psychisch Kranke und Behinderte, Hilfsbedürftige und Auffällige, Arme und Alte. „Unwertes Leben“, wie die Nazis sagten. Sie wurden vergast, vergiftet, verhungert und erschossen. Die Villa in der Tiergartenstraße 4 – ehemals im Besitz einer jüdischen Familie – wurde nach ihrer Enteignung zur Mordzentrale. Hier wurden die Patienten per Meldebogen erfaßt und die Gutachter ausgewählt, die über Leben und Tod entschieden.
Von hier aus wurden die „Grauen Busse“ mit den Opfern in die Gaskammern der Mordanstalten dirigiert: nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, nach Brandenburg an der Havel, nach Hartheim bei Linz, nach Pirna-Sonnenstein, nach Hadamar bei Limburg und nach Bernburg an der Saale.
In den vormals psychiatrischen Anstalten wurden die Patienten noch am Tag ihrer Ankunft getötet. Die Angehörigen erhielten später Sterbeurkunden mit gefälschten Todesursachen – auch das wurde von Berlin aus dirigiert. „Die Euthanasie legte die Spur zum Judenmord“, sagt Talbot. Seit August 1941 wurden keine Anstaltspatienten mehr vergast. Das Euthanasie-Personal wurde an anderer Stelle gebraucht – in den Vernichtungslagern für Juden, Sinti und Roma im Osten.
Den Massenmord in den Euthanasie- Anstalten setzten die NS-Ärzte nun mit anderen Mitteln fort, bis die Alliierten ihn beendeten. Die Tötung der für unheilbar erklärten Patienten bot aus Sicht von NS- Ärzten „einzigartige“ Forschungsmöglichkeiten. Nach den Studien am lebenden Patienten mußten die Psychiater nicht erst den natürlichen Tod abwarten, um an das Gehirn des Untersuchungsobjektes zu kommen. Dort, so vermuteten die NS- Wissenschaftler, würden sie die Ursache für Schizophrenie oder Depression finden.
Die Euthanasie-Zentrale in der Tiergartenstraße 4 richtete zwei Forschungsabteilungen ein. Eine davon gehörte zur Heidelberger Universitätspsychiatrie. Geleitet wurde sie von Carl Schneider, einem der wissenschaftlichen Wegbereiter der Euthanasie. Für den Publizisten Ernst Klee ist dieser Psychiater „das schlimmste bekanntgewordene Beispiel einer über Leichen gehenden wissenschaftlichen Gesinnung“.
Schneider war ständig auf der Jagd nach neuem Untersuchungsmaterial, nach „vielen schönen Idioten“, wie er sagte. An den medizinischen Leiter der Euthanasie-Zentrale in Berlin, Hermann Paul Nitsche, schrieb er: „Ich muß also rechnen, daß nur die Hälfte der Idioten, die wir hier untersucht haben, voll für die Untersuchung zur Verfügung stehen werden. Das ist sehr bedauerlich, aber nicht zu ändern.“
Schneiders Schüler Hans-Joachim Rauch war nebenamtlich bei der Abteilung der Euthanasie-Zentrale beschäftigt. Das geht aus einem Aktenvermerk der T4-Zentrale hervor. Rauch war noch bis 1977 an der Heidelberger Uniklinik als Professor und Oberarzt tätig. „Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter“, heißt es auf der Gedenkplatte an der Tiergartenstraße 4.
René Talbot redet mit Tempo – und würde auch genauso rasant handeln. Wenn man ihn ließe. „Wenn es nach uns geht, wir können sofort anfangen“, sagt er. Und schiebt schnell hinterher: „Was wir brauchen, ist die Sammlung, den Bauplatz und finanzielle Unterstützung durch den Bund.“ Geld für den Bau wäre vorhanden. 1,75 Millionen Mark hat ein anonymer Stifter für das Projekt gespendet. Die Planung steht. Kein Problem also? Ganz so einfach scheint das Unterfangen nicht.
Zumindest nicht, wenn Christoph Mundt erzählt, wie er das Ganze sieht. Für den Leiter der Heidelberger Unipsychiatrie befindet sich der Platz der Prinzhorn- Sammlung in seiner Klinik. Also der Ort, an dem der Psychiater Prinzhorn von 1919 bis 1921 gearbeitet – und die Kunstwerke gesammelt hat. Warum, fragt Mundt, solle Berlin ein besserer Ausstellungsort sein als Heidelberg? Beide Orte seien doch gleichermaßen Teil des perfiden Vernichtungssystems der Nazis gewesen.
Die Zentrale der Euthanasie jedoch war in Berlin, halten Talbot und Mitstreiter dagegen. Der Berliner Initiative gehe es ohnehin nicht nur um den Ort, sondern auch um die Form des Museums. „Das ,Haus des Eigensinns' soll nicht einfach irgendein Museum sein, sondern ein lebendiges Zentrum, in dem auch Betroffene zu Wort kommen“, sagt Dorothea Buck. Sie vertritt die überlebenden Opfer der NS- Psychiatrie im Berliner Förderkreis.
Auch die Werke der Prinzhorn-Sammlung sollten, wenn es nach ihr ginge, im Interesse heutiger Betroffener eingesetzt werden. Bischof Wolfgang Huber, auch Mitglied des Förderkreises, erhofft sich von der „beeindruckenden Gestaltungskraft“ dieser Bilder eine „unmittelbare und elementare Hilfe für den Respekt gegenüber den betroffenen Menschen“.
Vor allem aber: Museum und Sammlung sollen von Psychiatrie-Erfahrenen verwaltet werden. Daß die Bilder von Betroffenen außerhalb der Psychiatrie ausgestellt würden, gerade darin liegt für Brigitte Siebrasse aus dem Vorstand des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) „die einmalige emanzipatorische Chance“. Und für René Talbot wäre dieser Schritt schlicht „ein Vertrauensbeweis“ für die Psychiatrie-Patienten.
In Heidelberg dagegen bezweifelt man, daß die Psychiatrie-Erfahrenen die Prinzhorn-Sammlung fachlich betreuen können. René Talbot knapp: „Da ist sie wieder, die Verachtung, die den Künstlern schon widerfahren ist.“ Siebrasse und Talbot wollen zunächst einmal die Prinzhorn- Werke aus der Verfügungsgewalt der Psychiatrie herausholen. Die Künstler sollen gewürdigt werden, nicht der Sammler und Psychiater Prinzhorn. Hatte der doch ein biologistisches Weltbild! Für Talbot war das Leitmotiv der Sammlung indes: Seht her, so malt ein Verrückter.
Die Aussichten der Berliner Initiative auf die Sammlung indes sind schlecht. Zwar kommt der Spezialist für Urheberrecht, Peter Raue, zu dem Schluß, Prinzhorn und der damalige Direktor der Klinik hätten die Werke der entmündigten Künstler „bösgläubig“ erworben. Alle Herausgabeansprüche an die Unipsychiatrie Heidelberg jedoch sind längst verjährt. Und den Anspruch der Psychiatrie-Erfahrenen, Nachfolger der Enteigneten zu sein, will weder Mundt nachvollziehen noch Jürgen Siebke, der Rektor der Universität.
Und so richtet man sich in Heidelberg darauf ein, die Prinzhorn-Sammlung aus den Magazinen zu holen. Im September soll der Umbau des ehemaligen Hörsaals der Neurologie beginnen. Dort soll die Sammlung dann untergebracht werden.
Der Bund, soviel steht fest, hat für die Ausstellung der Prinzhorn-Sammlung im Heidelberger Klinikum 1,75 Millionen Mark bereitgestellt. Die gleiche Summe will noch einmal das Land Baden-Württemberg beisteuern. Geld, das sich das Land sparen könnte, meint Talbot. Denn in Berlin stünden eben jene 1,75 Millionen bereits zur Verfügung – aus privater Schatulle.
Der Berliner Förderkreis will mit einem Moratorium erst einmal verhindern, daß in Heidelberg Fakten geschaffen werden. Die Berliner wollen „eine breite Diskussion über den Verbleib der Sammlung“. Notfalls könne man die Werke ja auch mit den Heidelbergern teilen. Deren „exklusiver Anspruch“ auf die Prinzhorn-Exponate sei aber „abwegig“, sagt Landesbischof Huber.
Daß die Bilder in Heidelberg in eben jenem Hörsaal ausgestellt werden sollen, in dem die Gehirne von Psychiatrie-Insassen „warm auf den Tisch kamen“, das will René Talbot nicht akzeptieren. „Beutekunst für den Hörsaal der Mörder?“ Mit ihm nicht. Nein, nicht mit ihm.
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