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Frühling in Peking

Die Begnadigung des Dissidenten Wang Dan ist ein Signal: Neun Jahre nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz will sich die Regierung an die Spitze der Reformer stellen.  ■ Aus Peking Georg Blume

Überrascht war gestern nur die Mutter des ehemaligen Studentenführers: „Es kam so plötzlich, wir wußten ja von nichts“, stotterte eine gerührte Wang Lingyun nach der vorzeitigen Freilassung ihres zu elf Jahren Gefängnis verurteilten Sohnes Wang Dans. Der aber mußte – kaum hatte er seine Familie in die Arme geschlossen – auf Nimmerwiedersehen ins nächste Flugzeug nach Amerika steigen. Für Gefühle blieb da keine Zeit.

Wang Dan ist schließlich nur ein Ball, den sich die Großmächte zuwerfen. Tatsächlich hatte das Weiße Haus in Washington die Freilassung des chinesischen „Dany Cohn-Bendit“ bereits Anfang April angekündigt. So kann der junge Held der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Frühjahr 1989 nun zwar mit einem Willkommensgruß von Bill Clinton rechnen. In China aber weint dem Häftling außer seiner Familie niemand eine Träne nach. Die im Westen als Märtyrer verehrten Demokratie- Dissidenten wie Wang Dan und der bereits vor ihm exilierte Wei Jingsheng sind in ihrer Heimat den meisten Bürgern schlicht unbekannt, da ihnen eine öffentliche Rolle nie zugestanden wurde.

Dennoch hat der politische Begnadigungsakt des im Westen bekanntesten Vertreters der Pekinger 89er Generation auch in China eine große symbolische Bedeutung. Wang kommt nur zwei Wochen vor dem Staatsakt zum hundertjährigen Bestehen seiner ehemaligen Lehrstätte, der Pekinger Universität, auf freien Fuß. Auf dem staatsheiligen Campus im Norden der Hauptstadt sind in diesem Jahrhundert zahlreiche Revolten angezettelt worden: von der antikolonialen Mai-Bewegung 1919 über die Kulturrevolution in den sechziger Jahren bis hin zum tragischen Aufstand der Studenten vor neun Jahren. Nun aber will sich Partei- und Staatschef Jiang Zemin selbst an die Spitze der Freidenker stellen.

Zur Überraschung von Professoren und Stundenten plant Jiang, aus Anlaß des Universitätsjubiläums eine programmatische Rede über die Freiheit der Wissenschaft zu halten. Da die Kommunistische Partei bisher für sich in Anspruch nimmt, das Land nach der objektiven Parteilehre wissenschaftlich zu führen, ist das ein heikles Thema. Doch nach der wirtschaftspolitischen Wende unter Premierminister Zhu Rongji, der der Führungsrolle der Partei für die Unternehmen des Landes abschwört, erwarten heute selbst Parteikader von Jiang nichts Geringeres, als daß er nun auch die Führungsrolle der Partei für die Wissenschaft (sprich: die Intellektuellen) in Frage stellt. Jiang werde die Pekinger Universität als „Geburtsort der akademischen Freiheit in China“ würdigen und nicht mehr als höchste Schule des kommunistischen Denkens, heißt es im Umfeld der Universität.

Offenbar war auch dem Parteichef aufgefallen, daß mit dem ehemaligen Pekinger Studenten Wang Dan hinter Gittern der Versuch, eine neuen geistigen Aufbruch vom Ausgangsort der Tiananmen- Revolte einzuleiten, zumindest in der Außenwirkung gelitten hätte. Gleichzeitig aber bestätigt die Freilassung Wangs, ob gewollt oder ungewollt, ein politisches Frühlingsgefühl, wie es in der chinesischen Hauptstadt seit 1989 nicht mehr aufgekeimt ist.

Jahrelang war die Pekinger Universität ein Ort des Schweigens. Nur auf den Basketballplätzen brüllten sich die Studenten ihren Frust von der Seele. Die triste Stimmung ist seit ungefähr drei Monaten einer neuen Reformbegeisterung gewichen. Chinas „Umsetzung der politischen Reform wird letzendlich über Erfolg und Mißerfolg der wirtschaftlichen Reformen entscheiden“, hatte der intellektuelle Doyen der liberalen Pekinger Wirtschaftsreformer, Li Shenzhi, zum Jahresbeginn in einer maßgeblichen Reformzeitschrift angemahnt.

Damit war das Startsignal für eine neue Demokratie-Debatte gegeben, wie sie seither – umgarnt und getarnt mit positiven Anspielungen auf das Jiang-Regime – die soziologischen und politischen Fachblätter füllt. Nicht viel anders war es im Frühling 1989. Regierungsinstitute veröffentlichten kritische Essays, Professoren gaben ihre Reformvorstellungen kund – bis die Studenten auf die Straße gingen. So weit aber ist es heute noch nicht.

Geschickt hat sich die Regierung der Reformhoffnungen im Lande bemächtigt. Ausschlaggebend dafür war die außergewöhnliche Pressekonferenz von Zhu Rongji, während der sich der neue Premier als erster Regierungschef Chinas grundsätzlich zu demokratischen Wahlen bekannte. Einen Zeitpunkt dafür nannte er natürlich nicht. Aber durch sein pragmatisches Auftreten eroberte sich Zhu die Herzen vieler Chinesen, die ihr Leben lang noch keinen ihrer Führer live auf unvorbereitete Fragen hatten antworten hören.

So hat sich der Geist der demokratischen Kritiker im Vergleich zu 1989 gewandelt. Es geht ihnen um eine professionelle Reformdebatte, die sich nicht auf die Wirtschaft beschränkt – nicht aber um revolutionäre Strategiediskussionen. Die in der Zeit der Kulturrevolution aufgewachsenen 89er wie Wang Dan hatten dagegen Politik immer nur als Bewegung verstanden.

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