: Der heilige Scharlatan
■ Jan Linders und seine vergnügliche „Brechtmesse für Städtebewohner“bei den „Jungen Hunden 98“
Die Gemeinde wird per Handschlag von zwei priesterlich weißgewandeten Herren begrüßt. Eröffnet ist Jan Linders' Brecht-Messe für Städtebewohner, die im Stil einer katholischen Meßfeier des großen BBs Auferstehung feiern will. Ein Anspruch, den die drei Schauspieler, die Tänzerin und der DJ natürlich nicht einlösen können – aber der auf Kampnagel versammelten Gemeinde einen ästhetisch und atmosphärisch gelungenen Abend beschert.
Wie jeder normale Gottesdienst weniger den Intellekt als das Gefühl anspricht, so wirken auch die hier deklamierten Brechtschen Gedichte aus dem Lesebuch für Städtebewohner von 1927 vor allem als atmosphärischer Klangteppich, um eine zwischen Pathos und Ironie wechselnde Stimmung zu untermalen. Elemente aus Talkshows und Fernsehpredigten weichen dabei den strengen Ritus der Messe auf. Im Stil seichter Psychorunden befragt Susanne Kirchner die anderen Darsteller nach ihren Gefühlen, während der Schotte Alan Caig Wilson ganz mit dem Habitus eines amerikanischen Fernsehpredigers ins Mikro säuselt. Daß inhaltlich soviel hängenbleibt wie anno dazumal im Schulgottedienst, ist wohl beabsichtigt.
Oder doch nicht? Auf jeden Fall ist die Stimmung schön. DJ Fashion legt richtig gute Musik auf: mal Techno, mal Klassik; mal rhythmisch, mal sakral. Statt Kerzenlicht sorgen bewegliche Overheadprojektoren für tanzende Lichtkegel oder hüpfende Lichtpunkte, die durch ein Lochsieb reflektiert werden. Umgedrehte Schul-Landkarten dienen dabei als Projektionsfläche. Beeindruckend auch, wie die Tänzerin Dorothea Reinicke den Glauben an die Wiederauferstehung wörtlich nimmt und sich im Zeitlupentempo vom Boden erhebt, während sie mit rauchiger Stimme ihr Schuldbekenntnis „Ich bin ein Dreck“abgibt.
Unter dem anfangs projizierten Motto „Alles Neue ist besser als alles Alte“zelebriert Jan Linders eine Messe der neuen Art. Nein, auferstanden ist Brecht nicht. Und wenn zur Kommunion Oblaten ans Publikum verteilt werden mit manch salbungsvollem Spruch des Dichters, möchte man das auch gar nicht miterleben. Aber Brechts nüchternes Glaubensbekenntnis an den Wandel und die Vergänglichkeit, das zwischen den Texten immer wieder durchschimmert – das hat auch heute noch Substanz.
Karin Liebe
noch heute, 20.30 Uhr, k2
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