: "Man kann Gewalt auch herbeireden"
■ Polizeiexperte warnt Berliner Kollegen und Innensenator: Deeskalation ist keine Frage der Beliebigkeit, sondern die Umsetzung eines Verfassungsauftrages. Statt mit Demo-Verboten zu winken, soll Versammlu
Seit vergangenem Jahr machen die Berliner Polizei und Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) klar, daß man sich vom Konzept der Deeskalation verabschiedet hat. Udo Behrendes, Polizeioberrat, langjähriger Einsatzleiter der Polizei in Bonn und inzwischen Kommissarausbilder an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Köln, hat im „Handbuch für Führungskräfte der Polizei“ beschrieben, wie die Polizei mit Demonstrationen umgehen sollte.
taz: Herr Behrendes, Sie hatten bereits im Vorfeld des 1. Mai in Berlin davor gewarnt, sich vom Konzept der Deeskalation zu verabschieden. Was hatten Sie befürchtet?
Udo Behrendes: Ich war aufmerksam geworden durch einen Bericht in einer polizeilichen Fachzeitschrift. Ein hoher Berliner Beamter hatte das polizeiliche Konzept bei den letzten Mai-Kundgebungen dargestellt und ausdrücklich erklärt, daß auch nach Rücksprache mit dem Berliner Innensenator Deeskalation kein Konzept der Berliner Polizei sei. Das hat mich aufgeschreckt, denn das Deeskalationskonzept ist keine Frage der Beliebigkeit, sondern es ist nichts anders als die Umsetzung des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Wie stellen sich Ihnen, aus der Ferne betrachtet, die Krawalle, die ja noch heftiger waren als in den vergangenen Jahren, dar? Sind diese eine Folge davon, daß man sich hier vom Deeskalationskonzept verabschiedet hat?
Man kann Gewalt auch herbeireden. Der Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes hat bereits 1985 ganz klar gesagt, wie ein Deeskalationskonzept auszusehen hat. Darin steht der Satz: Beide Seiten haben Provokationen und Aggressionsanreize zu unterlassen. An die Polizei muß der Anspruch gerichtet sein, die Heterogenität von Demonstrationen im Auge zu behalten. Auch bei gewalttätig verlaufenden Demonstrationen sind meist nur zehn Prozent von vornherein gewaltbereit. Es geht doch gerade darum, Solidarisierungseffekte zwischen gewaltbereiten und anderen zu vermeiden, die entstehen können, wenn die Polizei als unbeherrscht oder unangemessen wahrgenommen wird. Das fängt bereits mit dem Aufzug an. Mit einem martialischen Dienstanzug signalisiere ich, daß ich Gewalt prognostiziere. Meine eigentliche Frage an die Berliner Kollegen aber ist: Was tut man eigentlich immer zwischen dem 2. Mai eines Jahres und dem 30. April des nachfolgenden Jahres? Was kann man machen, um das Klima zwischen Polizei und Demonstranten zu verbessern? Es mag eine kleine Zahl von Leuten geben, mit denen man nicht reden kann. Aber das auf die gesamte Demonstration hochzurechnen, ist letzlich unprofessionell.
Wie sind Sie in der Bonner Innenstadt mit solchen Demonstrationen umgegangen?
Wir haben nach dem alten Sepp-Herberger-Grundsatz „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ gehandelt. Wir haben die Demonstrationen nicht als singuläres Ereignis betrachtet, sondern versucht, durch den Dauerkontakt mit Demonstranten aus der Friedensbewegung, aus der Bürgerrechtsbewegung, aber auch bis hin zur autonomen Szene ein Klima des Vertrauens herzustellen. Wir haben sogar mit der autonomen Szene Verhaltensregeln abgesprochen. In einem Fall hatten wir auf dem Bonner Münsterplatz 6.000 Autonome von 30 Polizisten in Alltagsuniform begleitet. Das mag sich vielleicht naiv anhören, aber es hat geklappt. Es gibt kein Patentrezept. Aber man muß die Möglichkeiten deeskalativer Konzepte nutzen. Ein ganz wichtiger Aspekt dabei ist, daß man nicht reflexartig auf Einzelaktionen reagiert und damit in die von Randalierern gestellte Gewaltfalle tappt. Der Preis für das Ziel, zwei Steinewerfer festzunehmen, ist zu hoch, wenn man bei entsprechenden Aktionen die Solidarisierungseffekte erntet und Straßenschlachten vom Zaun bricht. Generell kommt es jedoch darauf an, sich in die Sichtweise des jeweils anderen hineinzuversetzen. Und dabei ist es einfach so, daß eine martialisch auftretende Polizei alleine durch die äußeren Anreize bei einigen Leuten Gewaltbereitschaft weckt.
Was sagen Sie vor diesem Hintergrund zu den Vorschlägen von Innensenator Schönbohm, die 1.-Mai-Demonstration gleich ganz zu verbieten oder sie nur noch als Kundgebung auf einem abgesperrten Platz zu genehmigen?
Es hat auch früher schon Vorschläge gegeben, Demonstrationen in Stadien stattfinden zu lassen. Im Brokdorf-Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht schon Klares dazu gesagt. Das geht an die Grundlagen des Verfassungsrechtes, des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit. Dennoch – trotz Krawallen und trotz NPD- Demonstration – muß man sich von den Einzelereignissen lösen. So schlimm zerbrochene Fensterscheiben und umgeworfene Autos sind, es steht letztlich mehr auf dem Spiel – das Demonstrationsrecht, welches 1848 erkämpft wurde. Interview Barbara Junge
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