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"Es geht nicht mehr nur um Pädophilie"

■ Frederic Lavachery, Koordinator der "Weißen Komitees" in Belgien, sieht trotz der Affäre Dutroux keine Reformaussichten: Zu undurchdringlich ist die Mauer des Schweigens um kriminelle Handlungen mit

Vor eineinhalb Jahren, nach der Aufdeckung der Dutroux-Affäre mit all ihren Pannen und Schlampereien bei Belgiens Polizei und Justiz, entstanden die sogenannten Weißen Komitees, die einen besseren Schutz der Kinder fordern und einschneidende Reformen verlangen. Frederic Lavachery ist einer der nationalen Koordinatoren dieser Gruppen.

taz: Nach dem Ausbruch des Kindermörders Dutroux haben erneut Spekulationen Konjunktur, Dutroux und sein Komplize Michel Nihoul hätten Politiker und Justizbeamte in der Hand. Aber es fehlen Beweise.

Frederic Lavachery: Es gibt Zeugen, die von Sexparties berichten, bei denen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft mit Kindern fotografiert wurden. Damit kann man erpressen.

Nihoul hat vor Jahren tatsächlich solche Sexparties organisiert. Trotzdem sind das bisher nur Spekulationen. Überall hört man von diesen ominösen erpreßbaren Politikern, aber niemand nennt sie.

Wir haben Namen von einflußreichen Leuten, die laut Zeugenaussagen bei diesen Parties dabei waren. Aber um sie öffentlich nennen zu können, brauchen wir Beweise. Die Zeugenaussagen sind vierzig Prozent der Wahrheit, die anderen sechzig Prozent liegen im dunkeln und müßten durch Ermittlungen der Justizbehörden aufgedeckt werden. Das ist möglich, aber es wird nicht gemacht. Warum nicht?

Teile der öffentlichen Verwaltung und Justiz sind gegenüber kriminellen Netzen nicht mehr unabhängig. Das kriminelle Milieu durchdringt den Staatsapparat bis hin zur höchsten Ebene. Der Richter Connerotte hat das im Februar 1996 in einem offenen Brief an den König dargelegt und die verheerenden Konsequenzen beschrieben, aber es ist nichts passiert.

Der Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte mußte ein paar Monate später den Fall Dutroux abgeben, weil er mit den Eltern der ermordeten Kinder Spaghetti gegessen hatte. Warum packt er nicht aus?

Die Namen, die von den Zeugen genannt werden, sind höchste Persönlichkeiten aus allen Bereichen dieses Staates. Wenn der Staatsanwalt Bourlet und der Nachfolger von Connerotte, Richter Langlois, das vor Gericht brächten, würde das den Staat sprengen. Diese Banden handeln mit Drogen, gestohlenen Autos und eben auch mit Kinderpornographie. Weil sie Teile der Staatsklasse in der Hand haben, bleiben selbst die schlimmsten Verbrechen unter der Decke. Es geht hier nicht mehr nur um Pädophilie, sondern um perverseste Vergehen an Kindern, die jede Vorstellung übersteigen. Schon das Lesen der Zeugenaussagen ist unerträglich.

Haben Sie welche gelesen?

Ja, einzelne Ermittler haben solche Zeugenaussagen nach draußen sickern lassen. Sie haben es nicht mehr ausgehalten. Ernsthafte Ermittlungen wären nötig, um den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu belegen oder auch zu widerlegen. Doch diese Ermittlungen werden verhindert. Alles ist blockiert.

Wer blockiert? Und was muß sich ändern in Belgien?

Wir brauchen eine andere Justiz, die sich der Bevölkerung verantwortlich fühlt. Unser Justizsystem akzeptiert bisher keine äußere Kontrolle.

Man hat den Eindruck, daß der Einfluß der Parteien auf die Justiz zumindest funktioniert.

Der Einfluß der Parteien ist enorm, und das ist Teil des Problems. Christdemokraten, Sozialisten und Liberale haben ihre Einflußsphären aufgeteilt und organisieren die Benennung aller wichtigen Posten in Verwaltung und Justiz. Richter und Staatsanwälte werden im Grunde in den Parteiapparaten nominiert.

Aber sie können doch, einmal im Amt, nicht mehr abgesetzt werden.

Aufstieg und Beförderung hängen wiederum vom Wohlwollen der Parteien ab. Wer sich bei Politikern unbeliebt macht, kann seine Karriereaussichten begraben. Dazu kommt etwas anderes. In Belgien gibt es eine sehr, sehr lange Tradition von Geheimbünden, vor allem Opus Dei und Freimaurerlogen. In diesen okkulten Zirkeln treffen sich viele Richter und hohe Justizbeamte mit Politikern und Persönlichkeiten aus der Wirtschafts- und Finanzwelt. Bis in die späten siebziger Jahre hatten wir das Phänomen einer breit angelegten Korruption, deren Folgen wir heute spüren. Es haben einzelne sogenannte ballets rosés veranstaltet, Sexparties, bei denen sie wichtigen Leuten aus Politik und Wirtschaft nackte Kinder in die Arme gedrückt und fotografiert haben. Damit werden die Personen erpreßt.

Ohne Beweise sind das wieder nur Spekulationen.

Sie werden von Zeugenaussagen gestützt, die mir vorliegen.

Einzelne Aussagen von Zeugen und Opfern wurden sogar in Zeitungen veröffentlicht. Eine junge Frau hat darin sogar behauptet, sie wäre als Kind bei einem Mord an einer 13jährigen dabeigewesen, die bei den Sexparties nicht mehr mitmachen wollte. Warum passiert trotzdem nichts?

Die Leute wissen inzwischen Bescheid, aber sie wollen es nicht glauben. Das erinnert an den Krieg, als die Leute nicht sehen wollten, was mit den Juden gemacht wurde. Die liberale Abgeordnete Jacqueline Hervé hat im Dutroux-Untersuchungsausschuß gesagt, sie könne die Zeugen nicht ernst nehmen, das seien Halluzinationen. Und wörtlich: Ich will nicht glauben, daß das in unserem Land möglich ist.

Wollen Sie sagen, daß der ganze Untersuchungsausschuß weggesehen hat?

Manche wurden zum Schweigen gebracht. Patrick Moriau beispielsweise war im Untersuchungsausschuß einer der schärfsten Fragesteller, bis er einen Brief von der Gendarmerie bekam. Danach hat man ihn nicht mehr gehört.

Was stand in dem Brief?

Das wissen wir nicht. Aber der Chef der Polizeigewerkschaft hat mehrfach Politiker davor gewarnt, bei den Nachforschungen zu weit zu gehen.

Kann es in Belgien eine Bewegung wie in Italien geben, wo eine Schicht junger Staatsanwälte den Kampf gegen das verrottete System aufgenommen hat?

Ich sehe in der belgischen Justiz keine solche Schicht. Sehen Sie: Alles was ich weiß, dürfte ich eigentlich nicht wissen. Daß selbst Opfer mit ihren Aussagen zu mir und zu den Weißen Komitees kommen, zeigt doch, daß sie kein Vertrauen in die Justiz haben.

Sie beschreiben einen Alptraum. Wie kann Belgien da herauskommen?

Ich weiß es nicht. Interview: Alois Berger

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