: Ich setze größere Hoffnungen auf Israel
Die Existenz Israels gibt Juden seit 50 Jahren neues Selbstbewußtsein. Ihre Angst, nirgends willkommen zu sein, gilt seither nicht mehr. Eine Erzählung über eine Reise aus dem Jahre 1957 ■ Von Michael Walzer
Meine erste Reise nach Israel machte ich im Juni 1957. Ich war jung, frisch verheiratet und unternahm mit meiner Frau und zwei Freunden das, was dann zu einer Art amerikanisch-jüdischer Reise wurde. Wir waren Studenten und hatten nicht viel Geld; in einem alten Auto fuhren wir durch Europa, übernachteten in Jugendherbergen und billigen Hotels, besuchten das Konzentrationslager Dachau (und eilten wieder fort), wanderten leichteren Herzens durch die alten Ruinen Athens und schifften uns dann in Piräus nach Haifa ein. Aus größerer Entfernung betrachtet, war es nach den Maßstäben des 20. Jahrhunderts eine ganz gewöhnliche Reise, wie sie sicher seit den fünfziger Jahren von vielen Menschen unternommen worden ist. Für mich war sie außerordentlich bewegend – und nicht nur aus den zu erwartenden Gründen.
Unsere Überfahrt hatten wir monatelang vorher gebucht, und es stellte sich nun heraus, daß das Schiff ein Flüchtlingsschiff war, das aus Genua kam. Wir waren die einzigen, die in Piräus zustiegen, und die einzigen zahlenden Passagiere. Die anderen waren ägyptische Juden, die nach dem Suezkrieg geflohen waren (über Italien), und polnische Juden, die nach dem „Polnischen Oktober“ und den Reformen Gomulkas geflohen waren (ebenfalls über Italien).
Die Ägypter waren gute Bürger – Kleinbürger nach den materiellen Maßstäben der Amerikaner –, aber kosmopolitisch im Stil der Juden Alexandrias. Sie sprachen alle Französisch und trugen jeden Tag Anzüge und Kleider. Sie waren auch überwiegend fromm, so wie sephardische Juden fromm sind, eher locker als streng orthodox, aber doch fromm: Jeden Morgen versammelten sich die Männer zum Morgengebet in einer Behelfssynagoge, die sie an Bord eingerichtet hatten.
Die Polen dagegen waren absolut weltlich, überwiegend Kommunisten, eher Freiberufler als Kaufleute, immer zwanglos gekleidet. Sie waren entsetzt gewesen, als Gomulka wieder Priester und katholische Gebete in den staatlichen Schulen zugelassen hatte; da sie befürchten mußten, daß nun auch der polnische Antisemitismus zurückkäme, hatten sie erst ihre Kinder aus den Schulen genommen und dann Anträge gestellt und Hindernisse überwunden, um das Land verlassen zu können.
Unter den Polen war ein Mann Mitte der Dreißig, der als Übersetzer englischer Bücher für den polnischen Staatsverlag gearbeitet hatte. Kurz zuvor hatte er Jerome Klapka Jeromes „Drei Mann in einem Boot“ übersetzt, einen köstlichen Roman vom Ende des vorigen Jahrhunderts (politische Bücher waren nicht erlaubt gewesen), den meine Frau und ich gelesen und hübsch gefunden hatten. Seinen Namen habe ich längst vergessen, aber er wurde für die Dauer der Reise unser Freund und Dolmetscher. Und er erzählte uns eine Geschichte, die sich mir für immer eingeprägt hat. Eines Morgens wanderte sein Sohn, sechs oder sieben Jahre alt, auf dem Schiff herum und stieß auf die betenden Ägypter. Er sah ihnen zu, und am nächsten Morgen ging er wieder hin, um sie wieder zu beobachten. Mit einem besorgten Blick kam er dann zu seinem Vater: „Was machen die da?“ fragte er. „Ich dachte, Juden wären Menschen, die nicht beten!“
Der Vater hat uns nicht erzählt, was er darauf geantwortet hat. Wesentlich an der Geschichte war die Feststellung, mit der sie endete. Tatsächlich, polnische kommunistische Juden waren Menschen, die nicht beteten, und der Junge war aus der Schule genommen und von seinen Klassenkameraden getrennt worden, damit er nicht gezwungen sein würde, katholische Gebete zu sprechen (jüdische Gebete wären seinen Eltern ebenso fremd gewesen). Aber ägyptische Juden waren Menschen, die eben doch beteten und sich von ihren muslimischen und koptischen Nachbarn durch die Gebete unterschieden, die sie sprachen. Was hatten beide Gruppen gemein?
Außerdem an Bord waren auch noch ein paar Vertreter der Jewish Agency; sie sollten den Ägyptern und den Polen helfen, sich auf ein Leben in Israel vorzubereiten – ein Leben, auf das sie schließlich nicht gefaßt waren und das sie sich nicht ausgesucht hatten. Diese Flüchtlinge waren ja keine militanten Zionisten. Die Polen hatten wahrscheinlich sogar eine antizionistische Ideologie in sich aufgenommen und die Ägypter gar keine; sie hatten sich in ihrer Diaspora ganz wohl gefühlt.
Um uns kümmerten sich die Leute von der Agency nicht; wahrscheinlich verachteten sie diese reisenden amerikanischen Studenten ein bißchen. Sie sprachen mit den Flüchtlingen darüber, wohin man sie bringen würde, wenn sie ankamen, mit welcher Art von Unterstützung sie würden rechnen können, wie wichtig es war, Hebräisch zu lernen, und welche Arbeitsplätze ihnen wahrscheinlich offenstünden. Und sie versuchten, ein bißchen Zuneigung zum Land und Staat Israel zu wecken. Sie lehrten die Kinder die Lieder und Tänze der israelischen Jugendgruppen; sie lehrten die Polen, Hatikwa, „Die Hoffnung“, zu singen, die zionistische Hymne.
Die Ägypter kannten sie schon, denn das Lied war der Bewegung entschlüpft und wurde seit Jahrzehnten auch in den Synagogen gesungen. Es gab ein paar zurückhaltende Vorträge – oder vielmehr Gespräche – auf französisch und polnisch über israelische Geschichte und Politik. Die Flüchtlinge waren besorgt und mit sich selbst beschäftigt; die Leute von der Jewish Agency versuchten, keinen Druck auszuüben.
Wir waren alle an Deck, als die Höhen des Karmel eben südlich von Haifa in Sicht kamen, unser erster Blick auf das, was die Ägypter, nicht aber die Polen, als das „gelobte Land“ kannten. Aber es war einer von den Polen, der – leise und zögernd – Hatikwa zu singen begann. Und dann sangen wir alle, und die meisten von uns weinten, und ich begriff sehr gut, was diese Menschen miteinander gemein hatten. Sie teilten die Hoffnung auf einen Ort, wo sie in Sicherheit leben und sich zu Hause fühlen konnten, als Juden, die beteten, und Juden, die nicht beteten. Und für sie gab es keinen anderen Ort.
Für meine Frau und mich gab es einen anderen Ort, sogar ein anderes gelobtes Land, Amerika, die Goldene Medina unserer Eltern und Großeltern, und dorthin würden wir nach ein paar Monaten in Israel zurückkehren. Was also hatten wir mit den Ägyptern und den Polen gemein? Natürlich hatte ich auf diese Frage eine intellektuelle Antwort. Ich wäre ja gar nicht auf dem Schiff gewesen, wenn ich nicht in gewisser Weise ein Zionist gewesen wäre. Ich glaubte an die Einheit des jüdischen Volkes und an das Recht der Juden auf nationale Befreiung und – nach dem Holocaust – an das dringende Bedürfnis nach einer jüdischen Staatlichkeit.
Was ich auf dem Weg von Piräus nach Haifa begriff, war die emotionale Beziehung zwischen diesen Überzeugungen. Mein Gefühl, mit den Menschen an Bord verwandt zu sein, war so stark, daß ich noch heute keine Worte finde, es auszudrücken, und ich habe auch – nach 40 Jahren des Schreibens – gar nicht das Bedürfnis, es auszudrücken. Seit jener Zeit bin ich ein Zionist, nicht wegen all der anderen bekannten Gründe, sondern auch wegen dieses Jungen, der sich plötzlich nicht mehr sicher war, was es heißt, Jude zu sein, und der so plötzlich von der jüdischen Erfahrung eingeholt wurde.
Ich setze größere Hoffnungen auf Israel als nur die, daß es ein Ort sein möge, an dem Kinder wie er ungefährdet leben und herausfinden können, wer sie sind. Aber das steht natürlich an erster Stelle. So oft mich meine Erwartungen veranlassen, dieses oder jenes an der israelischen Regierung oder ihrer Politik zu kritisieren, was häufig geschieht, erinnere ich mich an die Ägypter und die Polen auf jenem Schiff 1957. Ich vermute, sie haben in Israel ein Zuhause gefunden, und weil sie das haben, weil sie das konnten, ist ihr Israel auch meines.
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