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Ansichten einer Stadt

■ Der Bericht einer Schweizer Bankiersgattin von einem Berlinbesuch anno 1900

Prof. emer. Paul Hugger, Herausgeber der „volkskundlichen Taschenbücher“, hat eine gute Nase. Beim Stöbern auf einem Flohmarkt in Lausanne fällt ihm ein Manuskript in die Hände, das heute selbst in Antiquariaten kaum aufzutreiben sein dürfte: „Meinem lieben Mann in Dankbarkeit gewidmet“, steht auf der Titelseite, und auf der nächsten: „Unsere Reise an die Ostsee“, 29. August bis 28. September 1900“. Olga Frey, die Verfasserin, wollte damit ihrem Gatten, einem Bankdirektor im schweizerischen Aarau, ein ganz persönliches Weihnachtsgeschenk machen; an eine Veröffentlichung hat sie nie gedacht. Von Hand beschriebene Alben wie dieses, schön gebunden mit umranktem Landschaftsbild und um Postkarten, Fotos und Zeitungsausschnitte ergänzt, waren eine im letzten Jahrhundert nicht untypische Form, die Erinnerung an eine Reise zu bewahren, die damals noch zu den ganz besonderen und bemerkenswerten Erfahrungen eines Lebens gehörte.

Die Freys, obwohl zur Oberschicht ihres Heimatstädtchens zählend, waren bis dato in der Welt noch nicht groß herumgekommen. Ferien verbrachte man bodenständig, in der Schweiz; lediglich einmal hatte man in 23 Ehejahren gemeinsam „die Grenze unseres kleinen Vaterlandes überschritten“ – und auch das nur hinüber ins nahe Süddeutschland. Die große Reise nach Berlin und an die Ostsee anno 1900 markierte demgegenüber den Aufbruch aus der Enge einer Provinz, in welcher der „Bahnhofsvorstand und sein Buffetwirt noch Kohl und Rüben auf dem Bahnhofsvorplatz“ anzupflanzen pflegten.

Die fieberhaft expandierende Weltmetropole Berlin, mit ihren fast schon zwei Millionen Einwohnern damals die „größte Mietskasernenstadt der Welt“, sorgte für Kontrasterfahrungen ganz neuer Art. Herr und Frau Direktor belassen es nicht bei den klassischen Sehenswürdigkeiten – dem Zoo, der Prachtstraße Unter den Linden, dem Reichstag oder dem gerade im Bau befindlichen Dom – sie entwickeln plötzlich eine ungestüme Lust auf die Entdeckungen, die das Labyrinth der Großstadt abseits der festgelegten Routen zu bieten hat: „Wir setzen uns in einen offenen Wagen des elekrischen Trams und verlangen vom Schaffner, soweit zu fahren, als sein Wagen gehe. Der Spaß kostet 25 Pfennig und dauert eine volle Stunde.“ So kommen sie weit hinaus in proletarische Vororte, in die ihre gutbürgerlichen Berliner Verwandten noch nie einen Fuß gesetzt hatten.

Doch am Ende erliegen auch die Gäste aus dem republikanischen Nachbarland der grenzenlosen Faszination von Paraden, Manövern und höfischem Zeremoniell, die im kaiserlichen Berlin das Erscheinungsbild der Stadt dominierten: „Berlin jewesen – Kaiser jesehn!“ Sie verschaffen sich Zutritt zur „großen Herbstparade auf dem Tempelhofer Felde“, woselbst neben Kaiser und Kaiserin auch eine ganze Reihe anderer Hoheiten zu besichtigen waren.

Nach so viel Großstadtstreß geht es ab in die „Sommerfrische“, ins fashionable Nobelbad Heringsdorf an der Ostsee, wo wiederum vor allem das Militär für die Unterhaltung der Gäste sorgt: in Gestalt der kaiserlichen Marine mit ihren Flottenmanövern, die man fortan kaum noch aus dem stets mit einem Feldstecher bewehrten Auge läßt. Ehrfurchtsvoll notiert Olga die Namen der großen Panzerschiffe – „Odin, Aegir, Greif, Grille, Siegfried, Hildebrandt, Frithjof, Pelikan, Heimdall und Blitz“ – die im nahen Swinemünde vor Anker liegen.

Olga Freys Reiseerinnerungen sind eine Quelle, die Einblicke gibt in die Reisekultur und in bürgerliche Lebensstile zur Zeit der Jahrhundertwende, aber auch in die große Bewunderung für Deutschland, die damals in der deutschsprachigen Schweiz ihren Höhepunkt erreicht haben dürfte. Dazu nimmt uns der exzellente Begleittext ein zweites Mal mit auf diese Reise. Er leuchtet jene gesellschaftlichen Realitäten aus, die der bürgerlich und touristisch verengten Wahrnehmung unserer Reisenden entgangen sind. Werner Trapp

Olga Frey: „Großstadtluft und Meereslust. Eine Reise nach Berlin und an die Ostsee 1900“. Herausgegeben von Walter Leimgruber. Limmat Verlag, Zürich 1997 (Das volkskundliche Taschenbuch, Bd. 12), 257 S., 32 DM/29,50 sFr

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