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Vom Nachteil der Neutralität

■ „Stilleben mit Pistole“: Jean-Luc Benoziglio ist präzise, distanziert und läßt doch die Worte tanzen

Alles hätte ganz anders kommen können. 1944 greift eine deutsche Fliegerstaffel ein Dorf im französisch-schweizerischen Grenzgebiet an. Die Bomben fallen aber auf neutralesSchweizer Territoriumanstatt auf das anvisierte französische Ziel. Ein zweijähriger Junge, der von seiner Mutter im Kinderwagen durch das Dorf spazierengefahren wird, kommt nur knapp mit dem Leben davon. Es hätte auch anders kommen können, und aus dem Jungen wäre kein Mann, aus dem Mann kein Erzähler geworden.

Für den Protagonisten des Romans Stilleben mit Pistole, den der Autor Jean-Luc Benoziglio namenlos in der dritten Person beschreibt, bleibt das (Über-)Leben ein Zufall und eine willkürliche Aneinanderreihung von Ereignissen, bei denen das Subjekt nicht Handlungs-träger ist. Als Achtjähriger vertauscht „er“ seine Plastikpistole mit der Dienstpistole des Stiefvaters, in der fahrlässigerweise eine Kugel steckt. Im Spiel entlädt sich die Waffe, und um ein Haar wird seine kleine Schwester getroffen.

Ähnlich auch 1968, als „er“ bei den Studentendemonstrationen in Paris von der Polizei festgenommen wird, obwohl er nur zufällig in der Nähe ist. Es fehlt nicht viel, daß einer zum Verbrecher wird. Motiv und Tat sind für die Justiz, nicht aber für die Betroffenen von Bedeutung.

Trat Benoziglio bisher eher als avantgardistischer Autor in Erscheinung, verwendet er diesmal eine konventionelle Form. Die Kapitel sind schlicht mit Jahreszahlen überschrieben und, bis auf wenige Ausnahmen, chronologisch geordnet. Beim Lesen erweist sich der klare Aufbau jedoch als ein ironisches Spiel mit den unsicheren Verhältnissen, in denen sich der „Held“ des Romans bewegt.

Benoziglio, in der Schweiz aufgewachsen, bevor er 1968 nach Paris übersiedelte, vergleicht das Schweizer Neutralitätsmodell mit dem Zustand des (post-)modernen Menschen, der sich nicht mehr in die politischen Prozesse einmischt, sondern sie nurmehr beobachtet, in der Hoffnung,von ihnen auch nicht berührt zu werden. Aber eben das hält Benoziglio für unmöglich. Der Versuch, die Wirklichkeit nur aus der Distanz zu betrachten, scheitert an der Wirklichkeit, die sich immer wieder ungefragt einmischt: 1944 die deutschen Bomben, 1968 die französischen Polizisten.

Doch Stilleben mit Pistole ist nicht nur ein politisches Buch. Vielleicht hat sein Protagonist auch deshalb keinen Namen, weil der eigentliche Held des Buches die Sprache ist. Der Erzähler ist oft, was er als unmöglich beschreibt: neutral, distanziert. Daraus entsteht ein lakonischer Humor, bisweilen schwarz, immer geistvoll. Etwa die Landschaftsbeschreibung: „Ein Stück weiter gab es einen See, dessen eisiges Wasser sich als letzte Ruhestätte für manchen Liebeskummer eignete.“ Oder als die Rede auf ein Flugzeug kommt, das aussieht „wie ein Maikäfer in Ocker. Rost, Senfgelb und Grün, diese Drillichfarben, die die Soldatenleichen in solch hübschem Einklang mit der Erde verwesen lassen.“

Joachim Dicks

Jean-Luc Benoziglio: „Stilleben mit Pistole“, Rowohlt Verlag, Hamburg 1998, 288 Seiten, 39.80 Mark

Lesung: heute um 20 Uhr im Literaturhaus, Schwanenwik 38

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