: Das Elend linker Immunisierungsversuche
Das „Schwarzbuch des Kommunismus“ rief bei seinem Erscheinen vor einem halben Jahr in Frankreich zahlreiche Kritiker auf den Plan, die die niederschmetternde Bilanz sozialistischer Regime zu relativieren suchten. Auch hierzulande haben linksradikale Kritiker viel Mühe darauf verwandt, die Verbrechen im Namen des Kommunismus zu bagatellisieren. Das Werk liegt seit kurzem auch auf deutsch vor. Ein Essay ■ Von Christian Semler
Auf welche politische Konstellation trifft die Veröffentlichung des ins Deutsche übersetzten „Schwarzbuchs des Kommunismus“ (im Original: „Livre noir du Communisme“) Ende dieses Monats? Ohne Zweifel wird sie ein Geschenk an jene schäumenden Wahlkämpfer sein, die in der PDS nichts weiter sehen als eine nahtlose Fortsetzung der SED, die wiederum als Satrapenpartei der Sowjetunion mit deren Geschichte – und damit auch der Geschichte ihrer Verbrechen – verbunden ist. Was einfacher, als dieses voluminöse Werk, das in Form einer riesigen Materialsammlung die Verbrechen „des Kommunismus“ in unserem Jahrhundert aufeinanderhäuft, in der innenpolitischen Auseinandersetzung als Waffe zu verwenden.
Aber auch eine um Aufklärung, um das altmodische Verstehen bemühte Sicht sieht sich in diese Auseinandersetzung gestrudelt. Denn sie muß sich mit ebenso eingeschliffenen Abwehrreaktionen aus dem Milieu der Linken herumschlagen.
Zur intellektuellen Erbschaft linker Bewegungen gehört es, bei unangenehmen Sachverhalten nicht zu fragen: „Stimmt das – und welche Konsequenzen sind zu ziehen, falls es stimmt?“, sondern: „Wessen Interessen nutzt die Veröffentlichung der in Frage stehenden Fakten?“ Diesem Pseudomaterialismus des „Wem nutzt's?“ wird es nicht schwerfallen, das „Schwarzbuch“ als Zulieferbetrieb einer Kampagne der Rechten zu demaskieren.
Nach einem ähnliche Schnittmuster waren schon viele Publizisten zu Werke gegangen, als das Original im vorigen Jahr in Frankreich erschien. Es galt als Instrument des Kampfs gegen die Linksregierung. Und nicht wenige seiner Kritiker labten sich daran, das Lob der rechtsextremistischen Front National für das „Livre noir“ ins Feld zu führen.
Dabei hätte eine um Fairneß bemühte Kritik von einem unvorhergesehenen Zwischenfall profitieren können. Kurz vor Veröffentlichung des Sammelwerks war es im Autorenkollektiv zum Streit gekommen. Zwei der wichtigsten Autoren, Nicolas Werth und Jean-Louis Margolin, distanzierten sich von dem Verfasser der Einleitung, Stéphane Courtois. In öffentlicher Polemik legten Werth und Margolin die kritischen Punkte einer vergleichenden Terrorforschung dar und versorgten so den Leser mit einem nützlichen Einstieg in die Methodik des Buchs und seiner Aufbauprobleme.
Die Einwände der beiden Autoren waren gewichtig. Sie warfen Courtois vor, in der Pose des Staatsanwalts „den Kommunismus des 20. Jahrhunderts“ vor ein imaginäres Nürnberger Tribunal zu zitieren. Das generelle Verdikt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das umstandslose Aufaddieren (oft nur schätzbarer) Opferzahlen habe Courtois dazu gebracht, die historischen Rahmenbedingungen zu vernachlässigen, in denen sich der Terror in den verschiedenen realsozialistischen Ländern vollzog.
In der Tat muß man sich nur die Frage stellen, in welcher kausalen Beziehung der Völkermord der Roten Khmer in Kambodscha zwischen 1975 und 1978 zum Jahr des Großen Terrors 1937 in der Sowjetunion steht, um die Berechtigung dieses Einwands zu begreifen. Auch hat nach Werth und Margolin ihr Kollege Courtois keine Anstrengung darauf verwendet, die einzelnen Phasen der Repression in jedem Land gesondert zu untersuchen und ihre jeweiligen Gründe einsichtig zu machen. In Courtois' Perspektive falle vollkommen unter den Tisch, daß beispielsweise die Sowjetunion nach 1954 noch 35 Jahre ohne Massenrepressalien im Stil der zwanziger und dreißiger Jahre existiert habe. Mit einem Satz: Courtois wollte nicht vergleichend verstehen, sondern summarisch verurteilen.
Die Substanz dieser Kritik ist (auch in dieser Zeitung bzw. in der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique) nachlesbar. Jetzt liegt das „Schwarzbuchs“ auf deutsch vor, die Karten sind auf dem Tisch, jeder kann sich nun ein Urteil bilden. Aber ist nicht schon alles in bewundernswerter Eile vorsortiert, klassifiziert worden? Wie steht es um die Wirksamkeit der Rezeption vor der Rezeption?
Naheliegenderweise interessiert in dieser Zeitung vor allem, was von linker bzw. linksliberaler Seite in jüngster Zeit hierzu vorgetragen wurde. Und das ist irritierend genug. Es geht um den Versuch einer Immunisierungsstrategie. Wie zu befürchten war, wird das im „Schwarzbuch“ ausgebreitete Material von vornherein durch die Behauptung neutralisiert, es diene als bloße Munition im Kampf gegen jede gesellschaftliche Alternative jenseits des Kapitalismus.
Im besonderen geht es bei diesem Abschottungsversuch darum, die Thesen von Courtois mit denen des deutschen Historikers Ernst Nolte zu identifizieren, zu behaupten, auch beim „Schwarzbuch“ würde der Bolschewismus als ursächlich für die Mordtaten des Nazismus dargestellt. Damit wäre die Entsorgung der deutschen Vergangenheit ein gutes Stück vorangekommen, die Ergebnisse des „Historikerstreits“ der achtziger Jahre wären revidiert, das Tor zu einem deutschen Nationalismus „auf der Höhe der Zeit“ wäre aufgestoßen.
Überraschenderweise hat hier die PDS vorsichtig taktiert. Sie hat die politischen Auseinandersetzungen in Frankreich um das „Schwarzbuch“ mehr referiert als für ihre Zwecke ausgebeutet. Mehr noch: Mit einer Konferenz über „Realsozialistische Kommunistenverfolgung“, deren Ergebnisse Ende 1997 veröffentlicht wurden, ist die Führung – wenngleich thematisch eingegrenzt – gegenüber den Einsicht wie Reue verweigernden Mitgliedern in die Offensive gegangen.
Die Presse mit radikal linkem Anspruch hingegen wirft sich von konkret bis Jungle world entschieden in die Bresche, vor allem, wo es um die Verortung des „Schwarzbuchs“ innerhalb einer Politik der „Renationalisierung“ geht. Aber auch einige liberale Autoren folgen diesem Strickmuster. So konstatiert Rudolf Walther in seiner „Nolte läßt grüßen“ betitelten Rezension vom 21. November 1997 in der Zeit, Courtois lehne sich fast wörtlich an die These Noltes an. Der schrieb: „Die Methoden, die Lenin angewandt und die Stalin und seine Nacheiferer systematisiert haben, erinnern nicht nur an die Methoden der Nazis, sondern gehen diesen oft voran. Der ,Klassen-Völkermord' ähnelt dem Rassen-Völkermord.“
Bernhard Schmidt, Rezensent für die Zeitschriften ak (“Analyse und Kritik“) und Jungle world, schreibt in der Nummer 47 letzterer Zeitschrift: „Courtois schreckt auch vor Ernst Noltes Vergleich zwischen Kommunismus und Nazismus nicht zurück.“ Als Beleg zitiert er folgende Passage aus dem Vorwort von Courtois: „Hier kommt der Klassengenozid dem Rassengenozid gleich. Der Hungertod eines ukrainischen Kulakenkindes, das vom stalinistischen Regime bewußt dem Hunger überlassen wurde, wiegt genauso viel wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto, das vom Naziregime dem Hunger überlassen wurde.“
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Wippermann schließlich bezeichnet Courtois in Jungle world 49/97 als „Nolte- Fan“. Er bringt Courtois' Thesen in einen engen Zusammenhang mit dem Werk „Das Ende der Illusion“ des kürzlich verstorbenen französischen Historikers François Furet. Diesem unterstellt er, er habe Noltes These übernommen, wonach der Nazismus nur eine Angstreaktion auf den Kommunismus gewesen sein soll. Besonders verübelt er Furet, daß der es Nolte als Verdienst anrechne, das Verbot eines Vergleichs von Kommunismus und Nazismus durchbrochen zu haben.
Dieser Versuch, das „Schwarzbuch“, zumindest aber den einleitenden Essay, mit dem „Historikerstreit“ im Deutschland der achtziger Jahre in einen Sack zu stecken, eine Linie von Nolte zu Courtois zu ziehen, findet in dem Werk selbst überhaupt keine Stütze. Das „Schwarzbuch“ beschäftigt sich weder implizit noch explizit mit dem Streit, in welcher Beziehung das NS-Regime zu den realsozialistischen Regimes stand. Erst recht enthält es keine Ausführungen über den Nutzen bzw. die Schädlichkeit von Totalitarismustheorien.
Courtois' Bemerkung über die zeitliche Abfolge kommunistischen und nazistischen Terrors begründet eben keinen Kausalnexus der Nolteschen Art. Mit Recht legt Wippermann auf den intellektuellen Einfluß Wert, den François Furet auf die Autoren des „Schwarzbuchs“ ausgeübt hat. Aber gerade hieraus müßte sich die Distanz zu Nolte erschließen. Aus dem Briefwechsel zwischen Nolte und Furet, der jetzt unter dem Titel „Feindliche Nähe“ auch in Deutschland veröffentlicht wurde, gehen die gegensätzlichen Positionen beider Historiker klar hervor.
Furet weist die angeblich „rationalen Beweggründe“ für Hitlers Antisemitismus, die nach Nolte in einer berechtigten Angst vor den Bolschewiki liegen, zurück. Er betont die spezifisch deutschen Ursprünge des Nazismus, die älter waren als die Feindschaft gegen die Bolschewiki. „Bevor man die Juden zu Sündenböcken für den Bolschewismus gemacht hat, waren sie bereits diejenigen für die Demokratie gewesen.“ Furet konstatiert: „Die Behauptung, daß der Gulag vor Auschwitz existiert hat, ist nicht falsch, sie ist auch nicht irrelevant, aber sie hat nicht die Bedeutung einer Beziehung von Ursache und Wirkung.“
Höflich, aber deutlich macht Furet Nolte auch die politischen Implikationen seiner Thesen klar: „Allerdings füge ich hinzu, daß Sie sich, wenn Sie dem Bolschewismus gegenüber dem Faschismus nicht nur eine chronologische, sondern auch eine kausale Priorität zuschreiben, dem Vorwurf aussetzen, den Nazismus in gewisser Weise entschuldigen zu wollen.“
Courtois betont die „Singularität von Auschwitz“, allerdings charakterisiert er sie in völlig unzulänglicher Weise, indem er sie reduziert „auf die Mobilisierung der modernsten technischen Ressourcen und die Ingangsetzung eines industriellen Prozesses, der Konstruktion einer Vernichtungsfabrik“. Mit solchen Definitionen ist weder der Dimension noch der Dynamik des nazistischen Völkermords beizukommen. Aber mit der Zurückweisung dieser verharmlosenden Auffassung ist noch nicht widerlegt, daß der Massenmord aus Gründen der Rassenzugehörigkeit nicht mit dem aus Gründen der Klassenzugehörigkeit verglichen werden kann. Mehr noch: daß zwischen beiden mörderischen Aktionen die von Courtois behaupteten „Ähnlichkeiten“ existieren.
Einer solche Behauptung ist in der linken Tradition stets mit dem Argument begegnet worden, daß die Rassenzugehörigkeit von Geburt an gegeben sei und niemals abgestreift werden könne – weshalb das Opfer des nationalsozialistischen Massenmords grundsätzlich keine Chance habe, seinem Henker zu entgehen. Hingegen wäre ein Mensch seiner Eigenschaft etwa als Bourgeois oder landbesitzender Bauer ledig, wenn er seiner Produktionsmittel verlustig ginge. Prinzipiell, das heißt nach dem erfolgreichen Ende der revolutionären Umwälzung und der Konsolidierung proletarischer Macht, sei seine zukünftige Existenz als Werktätiger gesichert. Um in dem angeführten Beispiel zu bleiben: Das Kind im Warschauer Ghetto hatte gegenüber den Nazis keine Überlebenschance. Das ukrainische Bauernkind aber hätte, falls es den Hungertod überlebte, eine Entwicklungsmöglichkeit – als Kolchosmitglied, oder, falls seine Interessen und Begabungen darüber hinausgingen, innerhalb jeder Funktion der sozialistischen Gesellschaft.
Das Problem dieser Beweisführung besteht nur darin, daß sie mit den historischen Fakten nicht übereinstimmt. Um dies zu erhärten, wird im folgenden vor allem auf den Beitrag von Nicolas Werth im „Schwarzbuch“ – eigentlich eine eigene, abgeschlossene 250-Seiten-Studie – Bezug genommen. Sie faßt über die bekannten Arbeiten der Sowjetologen hinaus auch die neuen russischen Forschungen bis Mitte der neunziger Jahre zusammen, ist strikt empirisch orientiert, vergleicht die Repressionszyklen miteinander, hält sich aber zurück bei großflächigen Verallgemeinerungen.
Werths Arbeit erhellt, daß schon in den frühen zwanziger Jahren darangegangen wurde, regimekritische oder aufständische Gruppierungen nicht nur gewaltsam zu „pazifizieren“, sondern sie in toto auszulöschen. Zum Beispiel die Kosaken vom Don und vom Kuban. Weil sich viele dem Zaren ergebene Kosaken den „Weißen“ im Russischen Bürgerkrieg angeschlossen hatten, wurde aus einer Reihe von Ortschaften die gesamte Bevölkerung deportiert und zur Zwangsarbeit verschickt, die Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dies geschah, nachdem die Niederlage der „Weißen“ besiegelt war. Konnte man die „Entkosakisierung“ noch der Gewaltspirale des Bürgerkriegs zurechnen und den gewaltsamen Tod vieler Unschuldiger mit dem allgemeinen Chaos erklären, so versagen solche Interpretationen bei der „Entkulakisierung“ vom Ende der zwanziger Jahre.
Jetzt ist die Staatsmacht gefestigt, die Bauern sind unter Kontrolle des Regimes. Erstmals wird eine riesige Bevölkerungsgruppe, die „Kulaken“, zu Konterrevolutionären erklärt, nach ihrer „Sozialgefährlichkeit“ in drei Kategorien eingeteilt und nach festgelegten Kontingenten deportiert bzw. erschossen. Die Stalinsche Führung rechtfertigte diese Massenrepressalien damit, sie habe in einem Akt der Notwehr gehandelt, denn ein großer Teil der Bauern habe die im Rahmen der Naturalsteuer auferlegten Getreidelieferungen zurückgehalten. Tatsächlich war die Verweigerungshaltung vieler Bauern das Resultat der Daumenschrauben, die ihnen die Bolschewiki zuvor angelegt hatten. Aber subjektiv erschien vielen der Kommunisten, die sich an den Zwangsmaßnahmen beteiligten, die „Entkulakisierung“ als ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der städtischen Revolution und der dörflichen Konterrevolution.
Diese Täuschung und Selbsttäuschung wurden endgültig zunichte gemacht im Jahr des Großen Terrors 1937. Der von der Parteiführung abgesegnete operative Befehl Nr.00477 ordnete die Tötung oder die Verbannung eines Kontingents ehemaliger Kulaken, ehemaliger Angehöriger oppositioneller Parteien und von Kriminellen an, die ihre Strafe verbüßten oder verbüßt hatten.
Dieser Terrorwelle, der in einem Jahr 700.000 Menschen zum Opfer fielen, schlossen sich Verfolgungen der in der Sowjetunion lebenden Ausländer an, denen vor allem die Polen und Deutschen als Gruppe zum Opfer fielen. Obwohl der Befehl die Verfolgung von „antisowjetischen Aktivitäten“ abhängig macht, wird in der Praxis die bloße Existenz zum Beweis dieser Aktivitäten. Die soziale Charakterisierung als „Ehemaliger“ ist jetzt das Brandzeichen. „Ehemaliger“ zu sein wird eine quasi biologische Eigenschaft, sie vererbt sich auf die Kinder und Kindeskinder. Jede individuelle Verantwortlichkeit verschwindet. Diese Fixierung des Gruppenfeindes – gepaart mit äußerster Entschlossenheit, ihn auszurotten – bezeichnet den Punkt der größten Nähe zwischen der nazifaschistischen und der stalinistischen Ausrottungspolitik.
Die Abwehr- und Immunisierungsstrategen sind weit davon entfernt, sich mit dem Tatsachenkern auseinanderzusetzen, der Courtois' Vergleich von Rassenmord und Klassenmord zugrunde liegt. Statt dessen wird den Autoren des „Schwarzbuchs“ unterstellt, sie borgten sich „ihre“ Toten bei Hungerkatastrophen aus, um in einem Zahlenvergleich die Kommunisten als die noch größeren Massenmörder darstellen zu können.
So schreibt etwa Hermann L. Gremliza in der letzten Januar-Ausgabe von konkret: „Über die Zahl der Opfer zu rechten erscheint immmer zynisch, ist hier aber unumgänglich. 11 der 15 Millionen ,umgebrachter' Sowjetbürger und 22 bis 48 (den Spielraum läßt das „Schwarzbuch“) der 44,5 bis 72 Millionen ,umgebrachter' Chinesen sind, sagen die Autoren, verhungert (und das sind möglicherweise weit weniger als in vergleichbaren Zeiträumen der vorkommunistischen Zeit dieser Länder und im Rest der Welt unterm Kapitalismus.“
Ebenso Bernhard Schmidt in ak vom 15. Januar 1998: „Ohne jede Unterscheidung stellt er [Courtois; C.S.] die Opfer von Hungersnöten als ,Opfer des kommunistischen Systems' auf dieselbe Stufe wie die Opfer von Zwangsarbeit oder von gezielter staatlicher Repression.“ Und auch Schmidt resümiert: „Würde man Courtois' Methode auf die übrige Welt, auf den Kapitalismus und ihm vorausgegangene gesellschaftliche Systeme anwenden, so käme man unweigerlich auf eine zigfach höhere Opferbilanz.“
Dieser Argumentationsstil verdunkelt die historische Beweisführung innerhalb des „Schwarzbuchs“. Wiederum sei das Gegenargument auf die Sowjetunion beschränkt, weil in ihrem Fall – im Gegensatz zu China – die Faktenbasis unbestritten ist. Die Hungersnöte in der Sowjetunion waren keine „Naturkatastrophen“, deren Folgen rechtzeitiger staatlicher Eingriff zwar hätte mildern, nicht aber abwenden können. Das trifft schon auf die Hungersnot von 1921 zu.
Trotz der schlechten Ernte von 1920 hielt die Staatsmacht an den vorher hochmanipulierten Ertragsschätzungen fest. Sie minderte nicht die im Rahmen des „Kriegskommunismus“ festgelegten Beschlagnahmungskontingente und nahm deshalb den Bauern das Saatgut und die für deren eigenes Überleben notwendige Getreidemenge weg. Erst recht ist die große Hungersnot von 1932/33 Ergebnis einer vorgängigen Politik – der der Zwangskollektivierung und „Entkulakisierung“. Werth hat sie als „regelrechten Krieg des Sowjetstaates gegen eine ganze Nation von kleinen Betrieben“ qualifiziert.
1930 zog der Staat in der Ukraine 30 Prozent der Getreideernte ein (in der NEP-Phase hatten die Bauern nur 15 bis 20 Prozent in den Handel gebracht). Trotz schlechterer Ernte kletterte der Anteil auf 41,5 Prozent. Unter Drohungen, zum Teil unter Folter wurden die Bauern gezwungen, ihre gesamten Vorräte abzuliefern. Sie verfügten weder über irgendwelche Geldmittel, noch konnten sie in die Städte ausweichen – das verhinderte der Inlandspaß, kombiniert mit einer vollständigen Sperre für Bahnfahrkarten vom Land in die Städte. Während auf dem Land 1933 Millionen von Bauern verhungerten, exportierte der Sowjetstaat 18 Millionen Doppelzentner Weizen, um Investitionsmittel für die Erfüllung der Planvorhaben zu erlangen.
Angesichts dieser – keineswegs erst seit Erscheinen des „Schwarzbuchs“ bekannten – Fakten ist es schlecht möglich, die sowjetische Führung von der direkten Verantwortung für die Hungersnöte zu entlasten. Deshalb führt ein allgemeiner Vergleich mit den Hungertoten, die Kapitalismus und Imperialismus zu verantworten hatten und haben, in die Irre. Dieser Vergleich wäre nur dann legitim, wenn er nicht Systemfolgen, sondern die Folgen einer je konkreten Politik in den Mittelpunkt rücken würde.
Von der Hungersnot im englisch besetzten Irland, vom Aushungern der Indianer Nordamerikas bis zur Verhängung von Hungerblockaden überhaupt gab es genügend Beispiele solcher von imperialistischen Regierungen gezielt herbeigeführten Hungersnöte. Die Kritiker des „Schwarzbuchs“ aber meinen etwas anderes: Sie buchen sämtliche tödlichen Folgen des kapitalistischen Siegeszugs auf das Konto eines Schuldigen: des „Systems“. Die Entlastungsabsicht solcher Gegenangriffe sticht ins Auge. Einerseits wird den realsozialistischen Machthabern eingeräumt, daß sie ihr Aufbauwerk nur auf den Ruinen des vorangegangenen kapitalistischen Systems errichten konnten. Diese drückende, ererbte Last hätte ihren Aktionsraum eingeschränkt, sie verwundbar gemacht, ihnen oftmals keine andere Wahl gelassen als gewaltsame Krisenlösungen.
Diese Art von objektiver Notwendigkeit wird dem Realsozialismus gutgeschrieben und mit den weltweiten Verbrechen des Imperialismus kontrastiert. In Wirklichkeit hat es nie eine „objektive Notwendigkeit“ gegeben, die den sowjetischen Machthabern nur die Waffe des Terrorismus gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung gelassen hätte. Weder war der Terror von 1936 bis 1938 Voraussetzung für den Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg, noch hing die Existenz der Sowjetunion zu Beginn der dreißiger Jahre von der Liquidierung des Kulakentums als Klasse ab, noch war die sowjetische Politik gegenüber dem ländlichen Rußland je ohne Alternative gewesen.
Die ganze Struktur solcher Argumentationen ähnelt dem Witz, nach dem ein sowjetischer Funktionär der Stalinzeit auf die Anschuldigung eines amerikanischen Besuchers, in der Sowjetunion herrschten Willkür und Mißwirtschaft, geantwortet hat: „Und ihr unterdrückt die Schwarzen!“ Alle Vergleiche helfen nichts: Die Hungersnöte in der Sowjetunion waren intendiert, sie waren Ergebnis einer politischen Linie, die die Bauern in die Knie zwingen wollte. Der Hunger wurde zu einer Waffe im Klassenkampf.
Opferbilanzen aufrechnen heißt: Augen zu, Festhalten an den einmal für richtig erkannten Schemata. In dem schon zitierten konkret-Artikel heißt es: „Je fragwürdiger, je katastrophischer sich der Kapitalismus entwickelt, um so dringender wird die Auslöschung aller richtigen Antworten, des ganzen analytischen Bestandes, dessen Überlegenheit nun nicht mehr zu übersehen ist.“
Tatsächlich haben uns die Widersprüche des Kapitalismus nicht den Gefallen getan, sich zusammen mit den untergegangenen sozialistischen Regimen zu verabschieden. Aber eine gesellschaftliche Alternative muß neu begründet werden. 70 Jahre Realsozialismus haben theoretisch und praktisch die „Beweislast“ zwar nicht umgekehrt, aber neu verteilt – hinsichtlich der ökonomischen „Machbarkeit“, mehr aber noch im Hinblick auf die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten.
Das „Schwarzbuch“ kann methodisch kritisiert, seine Sichtweisen mögen im einzelnen zurückgewiesen werden, an seinen Fakten führt kein Weg vorbei.
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