Die Toleranz bleibt auf der Strecke

In der Wrangelstraße klagen auch Linksalternative über Aggressivität und den hohen Ausländeranteil. Sie sehen ihr wohlmeinendes Bild vom Fremden enttäuscht durch Machogehabe und derbe Umgangsformen  ■ Von Sabine am Orde

„Lach mal wieder“, hat jemand auf die Wand des weißen Eckhauses gesprüht, daneben grinst ein Gesicht. Doch lachen kann Marianne Berg* über die Wrangelstraße nicht. Früher kam sie sich mit ihrer Wohnung in Friedenau manchmal „bürgerlich“ vor, beneidete ihre Freundin Heike Peters* um das bunte, pralle Leben im Kreuzberger Kiez. Doch die Zeiten sind vorbei. „Ich versteh' nicht, warum du immer noch hier wohnst“, sagt Marianne Berg zu ihrer Freundin. Sie sitzen gerade vor der Bar an der Ecke, auf dem Tisch steht Milchkaffee, hinter den kleinen Tischen donnert auf der Skalitzer Straße der Verkehr vorbei.

Im Wrangelkiez tobt das alternative Leben nicht mehr. Szenekneipen wie das legendäre Kuckucksei haben schon vor Jahren dichtgemacht, Projekte sind eingegangen oder kämpfen ums Überleben. Der Jugendclub „Q-free“ ist im September endgültig geschlossen worden, nachdem Jugendliche das Inventar zerlegt und einen Praktikanten krankenhausreif geprügelt hatten. Der Jugendladen in der Taborstraße hat sich von der offenen Jugendarbeit verabschiedet. Läden stehen leer, weil die Mieten viel zu teuer sind, nur Dönerbuden und türkische Cafés, Kioske und Ramschgeschäfte eröffnen ständig neu.

„Anstrengend, auf eine ganz andere Art als früher“, findet auch Bergs Freundin das Leben im Wrangelkiez. „Wenn ich ehrlich bin“, sagt Heike Peters, „nerven mich die türkischen Jungmänner und die Alkis an der Ecke.“ Was genau früher anders war, weiß sie nicht – Alkoholiker und türkische Platzhirsche gab es schon immer. „Es ist dreckiger“, da ist sich Peters sicher, „und die Stimmung auf der Straße ist heute aggressiver und respektloser.“ Doch diese Stimmung festzumachen fällt ihr schwer. Türkische Jungs fallen ihr ein, die auf die Straße spucken, sich gegenseitig anpöbeln, Frauen abschätzig angucken. Geschichten, wie jemand im Görlitzer Park grundlos vom Fahrrad geholt wird. Fertige Gestalten mit Bierdosen und Schnapsflaschen, die Selbstgespräche führen. Bedroht habe sie sich von denen noch nie gefühlt. Aber unangenehm sei es doch. Wegziehen will sie dennoch nicht.

Vor dem türkischen Café um die Ecke sitzen zwei alte Männer. Ob die Situation im Wrangelkiez schlechter geworden ist? Die beiden schütteln den Kopf. „Mit dem Kiez hat das nichts zu tun, hier gibt es alles, was man braucht“, sagt der eine und nippt an seinem Tee. „Das Problem ist die Arbeitslosigkeit. Für mich ist es nicht mehr so schlimm, aber was sollen meine Söhne tun?“

An der Ecke Oppelner verkauft die Familie Kensbock „Papier & Spiele“, seit über 30 Jahren schon. Guido Kensbock merkt am Verkauf von Formularen für An- und Abmeldungen, für Lohnabrechnungen und am Umsatz, daß sich der Kiez verändert hat: „Leute, die etwas kaufkräftiger sind, die auch mal ein schönes Heft kaufen, ziehen weg, und auch die Betriebe in den Hinterhöfen machen dicht.“ Kensbocks Umsatz stagniert, der Ökoladen „Biotopia“ kämpft gar mit einem Rückgang zwischen 10 und 20 Prozent. Beide überlegen nun, woanders ein zweites Geschäft aufzumachen, als Sicherheit.

Was Heike Peters und Guido Kensbock erzählen, hört man oft in dem Kiez nahe dem Schlesischen Tor. Nicht nur CDU-Hardliner und Polizei reden von zunehmender Aggressivität und Brutalität, von einer Bevölkerung, die wegen eines zu hohen Ausländeranteils „umzukippen“ droht, von Ghettoisierung. Auch Sozialarbeiter und Lehrerinnen, ehemalige Hausbesetzer und Stadtteilaktivistinnen klagen – und viele von ihnen ziehen weg. „Die Leute in dem Kiez sind ärmer geworden“, weiß auch Kreuzbergs Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer. „Nach dem, was ich höre, ziehen die grün wählenden Lehrer weg“, sagt sie. Statistisch belegen kann man das nicht.

„Der Wrangelkiez und Kreuzberg überhaupt, das war eben lange ein Biotop, der sich jetzt normalisiert“, sagt Rainer Sauter, der viele Jahre im Verein SO 36 gegen die Abrißpolitik aktiv war und heute im Wedding für die Bündnisgrünen Jugendstadtrat ist. Seiner Ansicht nach hat es eine Vermischung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen nie gegeben: „Das war doch eher eine Toleranz des Nebeneinanders.“ Doch selbst die scheint nun auf der Strecke zu bleiben.

Der bündnisgrüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz, der ein paar Ecken weiter wohnt, hält von dieser Diskussion nichts: „Das ist kein ethnisches, sondern ein soziales Problem.“ Sein Kern sei der „unglaubliche Mangel“ an Schulbildung, Ausbildungsstellen und Jobs. In Kreuzberg liegt die Arbeitslosenquote bei durchschnittlich 30 Prozent, 25.000 der 155.000 EinwohnerInnen des Bezirks leben von der Sozialhilfe. Ein knappes Drittel der Kreuzberger Jugendlichen verläßt die Schule ohne Abschluß, knapp 40 Prozent haben keinen Job. Im Jahr 2000, schätzt Jugendstadträtin Hannelore May, werden es sogar 60 Prozent sein. Im Wrangelkiez dürften diese Zahlen noch viel höher liegen.

„Wir haben in Kreuzberg eine durchschnittliche Kriminalität und auch keine Probleme mit Jugendgangs“, sagt Schulz, daran könne die Verunsicherung der Deutschen also nicht liegen. Doch die ganze Wahrheit ist das nicht. Die Jugendkriminalität, da stimmen Polizei und Sozialarbeit überein, steige zwar nicht dramatisch, aber die Gewaltdelikte nähmen zu. Die Täter würden jünger und brutaler. Die Bewaffnung der Kids steige. „Ein Messer ist Standard“, sagt einer der Sozialarbeiter vor Ort. Ein anderer beklagt das „Riesenproblem mit diesen spitzen BVG-Nothämmern“, die Kinder als Waffen aus Bussen mitgehen lassen.

All das weiß der Bezirksbürgermeister. Dennoch glaubt er, daß das latente Bedrohungsgefühl auch mit etwas anderem zu tun hat: dem emotionalen Bild von den Fremden, das auch in der deutschen Alternativszene weit verbreitet sei. „Es gibt dieses wohlmeinende, aber realitätsferne und deshalb nicht tragfähige Bild von den Fremden“, sagt Schulz. Das kollabiere nun, weil die Jugendlichen auf eine andere Art selbstbewußt sind als gewünscht: Sie legen Machogehabe und die derben Umgangsformen der Unterschicht an den Tag, sind manchmal reaktionär und religiös. „Damit tun wir uns schwer“, weiß Schulz.

„Wenn eine Gruppe türkischer Männer laut untereinander ist, dann wird das gleich als Bedrohung wahrgenommen“, meint auch Kemal Akdüzgün vom Verein Wohnen und Leben, der seit mehr als 20 Jahren MigrantInnen im Kiez berät. „Es gibt mehr Gewalt“, sagt Akdüzgün, „aber nicht in dem Maße, wie das im Moment hochgespielt wird.“

„Aber es gibt auch mehr Aggressionen gegen Deutsche“, meint sein Kollege Ekrem Özer. „Es gibt dieses Bild, die Deutschen sind sowieso gegen uns. Sie meinen, die Verkäuferin ist unfreundlich, weil ich Türke bin, jemand rempelt deshalb oder der Polizist spricht mich aus diesem Grund an – und der ist dann gleich ein Nazischwein.“

„Die Jungs stehen ständig unter Strom“, sagt Michael Mamczek, ein Sozialarbeiter im Kiez. „Die kommen mit Zeit und Ruhe nicht klar.“ Immer müsse etwas los sein. „Die Jugendlichen kennen keine Grenzen mehr, sie sind respektloser und aggressiver geworden“, meint auch seine Kollegin Jutta Prill. Die beiden beschlossen deshalb vor knapp zwei Jahren, die offene Jugendarbeit im Taborladen einzustellen. Seitdem machen sie Gruppenarbeit in Zusammenarbeit mit der Kiezschule. „Nur so können die Jugendlichen lernen, verbindlich zu sein und Verantwortung zu übernehmen für ihr Tun“, meint Prill. In anderen, größeren Jugendeinrichtungen im Bezirk bekommen die Kids irgendwann Schlüsselgewalt oder ein kleines Budget, um zu lernen, Verantwortung zu übernehmen.

Auch wenn sie andere Wege beschreiten, einig sind sich die Kreuzberger SozialarbeiterInnen in einem Punkt: Die Jugendlichen brauchen Bildung, Jobs, Perspektiven – Teilnahme an der Gesellschaft eben. „Das sind doch keine Rebellen, die die Gesellschaft ablehnen“, sagt einer der Sozialarbeiter, „die wollen einen BMW, einen Videorecorder und eine Familie. So schwer kann das doch eigentlich nicht sein.“

* Namen von der Redaktion geändert