: Die zweite Verhaftung des Putschisten Videla
■ Argentiniens Ex-Junta-Führer muß sich wegen Kindesentführungen vor Gericht verantworten
Berlin (taz) – Überraschend ist am späten Dienstagnachmittag der argentinische Ex-Diktator Jorge Videla festgenommen worden. Ihm wird in fünf Fällen vorgeworfen, als Führer der Militärjunta zwischen 1976 und 1981 an der Entführung von Babys beteiligt gewesen zu sein.
Zuvor hatte der Bundesrichter Roberto Marquevich den Haftbefehl gegen den heute 71jährigen Videla ausgestellt. Marquevich ermittelt im sogenannten „Fall Bianco“ gegen den ehemaligen Hauptmann Norberto Bianco und seine Ehefrau Susana Wehrli. Bianco war während der Militärdiktatur, die 1976 durch einen blutigen Putsch die Macht in Argentinien übernommen hatte, als Arzt der Armee in einem Folterzentrum beschäftigt. 1976 bekamen er und seine Frau ihr erstes Kind, Carolina, 1977 das zweite, Pablo.
Aber beide waren nicht die leiblichen Kinder, obwohl Bianco dies in den Papieren vermerken ließ – sie waren im Gefängnis geborene Babys verhafteter Linksoppositioneller. Die leiblichen Eltern sind „verschwunden“. Richter Marquevich ermittelt in fünf nahezu gleichgelagerten Fällen.
Videla soll sich als Oberster Dienstherr Roberto Biancos unter anderem durch Dokumentenfälschung an der Entführung der Babys beteiligt haben. Davon geht jedenfalls der Bundesrichter aus. Das Ehepaar Bianco und Wehrli, eiligst nach Paraguay geflohen, als die wahre Identität ihrer Kinder aufgedeckt wurde, sitzt dort heute in Hausarrest. Sollte Videla verurteilt werden, drohen ihm zwischen drei und zwanzig Jahre Haft.
Argentinien hatte 1986 durch zwei Gesetze die weitere Verfolgung der Verbrechen der Diktatur abgebrochen: durch das Schlußpunkt-Gesetz und das Gesetz über den Befehlsnotstand. Darin war jedoch der Tatbestand der Kindesentführung ausdrücklich ausgeklammert, um in den diversen Fällen weiterermitteln zu können. Deren genaue Zahl ist unbekannt. Die ermittelnden Behörden gehen von einigen hundert Kindern aus.
Jorge Videla war 1975 Oberster Heereschef geworden. Nach dem Putsch 1976 wurde er Vorsitzender der Militärjunta, ließ sich schließlich zum Präsidenten Argentiniens erklären. 1981 trat er ab, 1983 war die Diktatur am Ende, nachdem Argentinien 1982 den Krieg um die Falklandinseln (Malvinen) gegen Großbritannien schmählich verloren hatte. 1985 wurde Videla, wie auch den anderen führenden Köpfen der ersten Militärjuntas, der Prozeß gemacht – wegen Mordes und anderer Verbrechen erhielt er eine lebenslange Freiheitsstrafe, wurde aber 1990 durch Präsident Menem begnadigt – wie auch alle anderen verurteilten Militärführer.
Menschenrechtsgruppen wie die „Mütter der Plaza de Mayo“ zeigten sich genauso überrascht von Videlas Festnahme wie der zum Auftakt der Fußballweltmeisterschaft in Paris weilende Präsident Carlos Menem. Während Menem jedoch am Telefon mit den Worten „Welch ein Irrsinn!“ auf die Nachricht reagierte, forderte Hebe de Bonafini, streitbare Vorsitzende der „Mütter“, man solle Videla diesmal wirklich nie wieder gehen lassen. Videla hat seine Rolle in der Junta nie bereut. Er habe, sagte er bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1990, „die ungerechte Verurteilung als Teil seines Militärdienstes angesehen“. Bernd Pickert
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