: Und die Chaoten hatten doch recht
■ Bundesverfassungsgericht: Polizei und Berliner Justiz verstießen gegen das Grundgesetz, als sie die Demonstration am Tag der Eröffnung der Oberbaumbrücke 1994 teilweise verboten
Polizei und Oberverwaltungsgericht haben das Demonstrationsrecht unzulässigerweise eingeschränkt. Damit verstießen sie gegen den Artikel 8 des Grundgesetzes, der die Versammlungsfreiheit garantiert. Das hat, wie erst jetzt bekannt wurde, Ende April das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden.
Am 9. November 1994 wollte die Initiative Oberbaumbrücke eine Demonstration gegen die Eröffnung der Straßenverbindung zwischen Kreuzberg und Friedrichshain organisieren. Die Abschlußkundgebung sollte mitten auf der Brücke stattfinden, um den jahrelang bekämpften Innenstadtring für den Autoverkehr noch einmal zu sperren. Polizeipräsident Hagen Saberschinsky hatte etwas dagegen: Die DemonstrantInnen dürften nicht auf der Brücke protestieren, sondern höchstens in einer Straße davor.
Nachdem das Verwaltungsgericht auf Antrag der Initiative den Brückenprotest erlaubt hatte, schlug sich das Oberverwaltungsgericht (OVG) wiederum auf die Seite der Polizei. Kurz bevor am späten Nachmittag die Demo beginnen sollte, wurde der Anmelderin um 15.32 Uhr mitgeteilt, daß es mit der Kundgebung über dem Wasser nichts werde. Mögliche Rechtsmittel am selben Tag: keine.
Polizeiauflagen und OVG- Spruch hat das Bundesverfassungsgericht jetzt kassiert, nachdem Rechtsanwalt Matthias Lehmann Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte. Weder Exekutive noch Jurisdiktion hätten ausreichende Gründe genannt, warum die Kundgebung angeblich zu Zerstörung und Gewalt führen werde. Die Demo auf der Brücke wäre also rechtens gewesen.
In der Argumentation von Polizei und OVG hatte ein anonymes Schreiben eine zentrale Rolle gespielt, das die Berliner Morgenpost dem Staatsschutz übergeben hatte. Darin bekannten sich bis dahin unbekannte „Anti-Auto-Autonome (AAA)“ dazu, Wagen in einem Autohaus und einen Bagger unweit der Brücke demoliert zu haben. Folgerung von Polizei und OVG: Bei der Demo werde auf der Brücke möglicherweise auch einiges zu Bruch gehen. Man könne die unbekannten AutorInnen eines dubiosen Schreibens nicht umstandslos mit den AnmelderInnen einer Kundgebung in einen Topf schmeißen, sagen dagegen die Bundesverfassungsrichter des Ersten Senats.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist von weitreichender Bedeutung, weil die Polizei häufiger den Trick anwendet, Demonstrationen mit dem Hinweis auf irgendwelche anonymen Schriften einzuschränken. Letztes Beispiel: Um angeblich drohende, gewalttätige Störungen zu verhindern, sollte die Kundgebung gegen das Bundeswehrgelöbnis in der vergangenen Woche weitab vom Roten Rathaus stattfinden. So wollte es die Polizei. Als Argument brachte sie Plakate, die aufforderten, Rekruten vor die S-Bahn zu stoßen. Das Verwaltungsgericht freilich genehmigte die Demo dann dort, wo die Gelöbnisgegner sie auch haben wollten. Hannes Koch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen