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Der Kreislauf der Furchtvermarktung

■ Die vielzitierte Polizeikriminalstatistik ist als Handlungsgrundlage für die Politik untauglich

Wenn heute über Gewalt und Kriminalität geredet wird, dauert es nicht allzu lange, und die Debatte ist bei der Jugendkriminalität gelandet. Die Jugend, so der längst einhellige Tenor, wird immer krimineller und brutaler – und es finden sich schnell Argumente: Rund die Hälfte der Jungen und knapp ein Drittel aller Mädchen akzeptieren Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung. Knapp jeder fünfte hat Messer, Gasspray oder einen Schläger bei sich – und mehr als 50 Prozent gestehen ein, bereits einmal ein Gewaltdelikt begangen zu haben.

Solche Zahlen aus der Jugendforschung, durch Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ergänzt und ständig runderneuert, klingen bedrohlich. Daß es unter Kindern und Jugendlichen Gewalt und Kriminalität gibt, und daß es hier Steigerungsraten gibt, ist unstrittig. Zu Recht weisen Jugendforscher immer wieder darauf hin und mahnen Lösungen an. Außer schärferem polizeilichem Vorgehen und härteren Strafandrohungen fällt Politikern hierzu jedoch nichts ein. Dabei ist bereits der Bezug auf die PKS der erste Fehlgriff. Eine Kriminalstatistik ist keine statische, festgefügte Einheit. Eher gleicht sie einem Segel, in das der Wind sehr unterschiedlich hineinblasen kann. Wird in einem bestimmten Bereich mehr kontrolliert, oder steigt hier die Anzeigefreudigkeit der Bevölkerung, schnellen auch die Werte der PKS in diesem Bereich in die Höhe. Die Kriminalitätssteigerung ist da, gleichgültig ob tatsächlich oder vermeintlich. Es sind also sehr unterschiedliche Faktoren, die auf die Statistik Einfluß nehmen können. Unter dem Strich zeigt sie jedoch nicht mehr als die Anzahl der Fälle, die der Polizei in einem bestimmten Zeitraum bekannt wurden. Was daraus wird, wie viele Vorgänge von Kinder- und Jugenddelinquenz an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, eventuell noch angeklagt oder gar verurteilt wurden, all das läßt sich nicht herauslesen. Was eine solche Statistik also zeigt, ist nicht die Kriminalität von Kindern und Jugendlichen, sondern bestenfalls das Abbild polizeilicher Arbeitsbelastung.

Das Fatale dabei ist allerdings, daß in der Bevölkerung auf diese Weise die Kriminalitätsfurcht weiter geschürt wird – sei sie nun gerechtfertigt oder nicht. Unabhängig von der unmittelbaren Wirkung, die solche Darstellungen und ihre anschließende Berichterstattung in der Tagespresse auf die einzelnen Menschen haben, gibt es hier einen in sich geschlossenen Kreislauf der Furchtvermarktung: Was heute für die Medien berichtenswerte Nachrichten sind, wird von der Politik und der Polizei gern aufgegriffen und als „Handlungsbedarf“ definiert. Mit der Ankündigung eines solchen Bedarfs und den sich daraus anschließend ergebenden Handlungen (oder deren Ausbleiben) läutet sich die nächste Runde dann von allein ein.

Der Hamburger Kriminologe Sebastian Scheerer hat diesen Vorgang bereits vor 20 Jahren als „politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf“ identifiziert. Straftatbestände und Sanktionen werden dabei nicht mehr sorgfältig herausgearbeitet, statt dessen wird gehobelt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die angebliche Steigerung von Sexualmorden an Kindern zu Jahresbeginn. Tatsächlich ist die Anzahl solcher Taten seit Jahren konstant; was stattgefunden hat, ist eine Häufung innerhalb eines kurzen Zeitraums. Beschert hat sie uns den Aufbau einer Gendatei beim Bundeskriminalamt.

Im November 1993 führte der Psychologieprofessor Herbert Selg auf einer Arbeitstagung des Bundeskriminalamtes zur Kinder- und Jugendkriminalität unter anderem aus: „Jugend ist in vielen Augen eine Krisenzeit. Die Entwicklungspsychologie beginnt aber, diese generalisierende Sicht als Vorurteil abzulegen, denn die allermeisten Jugendlichen bewältigen ihr Leben ohne auffällige Krisen.“ Für rund 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen bleibt der Kontakt mit Gewalt und Kriminalität denn auch eine kurze Phase, und verschärfte Sanktionen sind somit eher dazu angetan, kriminelle Karrieren zu fördern. Ob der Weg, den die Jugendforscher nun weisen, der richtige ist, bleibt abzuwarten, geeigneter als die repressiven Schnellschüsse aus der Politik ist er allemal. Otto Diederichs

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