: Beinahe-Rentner mit viel Wut im Bauch
■ In einem Interviewbuch spricht Bremens Ex-Bürgermeister Hans Koschnick über seine Biographie, seine Fehler und die neue, alte Enthemmung des Kapitals
Auf Seite 166 wird er prophetisch. „Wir werden“, sagt der ehemalige Bremer Bürgermeister, ehemalige stellvertretende SPD-Vorsitzende und ehemalige EU-Administrator in Mostar, Hans Koschnick, „etwas anderes Äals im 19. JahrhundertÜ erleben. Wir werden die aus der Arbeitsgesellschaft Ausgegrenzten in der Stadt haben, wir werden sie in der Nachbarschaft haben, wir werden sie in den Verelendungsquartieren erleben, doch die noch wohlhabenden Menschen werden es nicht mehr hinnehmen, daß ihr Stadtteil verslumt. Was dann? Dann kommen die ganzen Prozesse, die in innerstaatlichen Krisen enden, die emotional rechtsradikal bestimmt sein werden.“ Hans Koschnick wird 70 im nächsten Jahr. Und auf Seite 166 der Niederschrift von zwei langen Interviews mit Meinhard Schmidt-Degenhard scheint es, als hätte er seine Hoffnung inzwischen doch verloren.
Es ist jetzt 13 Jahre her, daß sich Hans Koschnick zunächst aus der Bundespolitik zurückzog und dann auch das Amt als Bremer Bürgermeister aufgab. Vor zwei Jahren trat er – bitter enttäuscht von der Europäischen Union (EU) – als Leiter des Wiederaufbaus in Mostar zurück. Was nicht heißt, daß er nichts zu tun hat. Doch im nächsten Jahr will Koschnick, der in seiner Heimatstadt Bremen einen zugleich einzigartigen wie auch verklärenden Ruf genießt, wohl doch noch ein Beinahe-Rentner werden. Mehr Zeit für die Enkel will er sich nehmen, kündigte Koschnick bei der Vorstellung des Interviewbuches namens „Von der Macht der Moral“ an. So wird man ihn häufiger in Bremen sehen – mithin in einer Stadt, deren Stimmung sich seiner Ansicht nach „qualifiziert verändert“ und „etwas von dem Klima der 50er Jahre wiedergewonnen hat: Ich hoffe, daß das so bleibt.“ Da lobt er in Zeiten der großen Koalition die vermeintliche Wiederkehr einer politischen Bremensie der 50er, als Bremen trotz SPD-Mehrheit von einer rot-schwarz-gelben Koalition regiert wurde. Und da beschreibt er ein Szenario von den kommenden Krisen der Städte: Dieser Koschnick'sche Widerspruch ist gar nicht und zugleich ganz leicht aufzulösen.
Hans Koschnick wurde 1929 in ein kommunistisches Elternhaus geboren. Beide Eltern wurden nach 1933 verhaftet, Koschnicks Vater verbüßte gar eine mehrjährige Zuchthausstrafe und starb – dann doch noch für „bedingt wehrwürdig“ befunden – 1944 als Soldat in Finnland. Im Gespräch mit dem hauptamtlichen Redakteur beim Hessischen Rundfunk, Meinhard Schmidt-Degenhard, schildert Koschnick eine Art Schlüsselerlebnis. Als sein Vater 1944 noch einmal Heimaturlaub hatte, erklärte er dem jugendlichen Hans: „Wenn Ihr nach dem Krieg etwas Neues schaffen wollt, dann macht nicht die gleichen Fehler wie wir vor 1933, werdet nicht erst hinter den Mauern eines Gefängnisses oder Konzentrationslagers klug, sondern denkt vorher, was man gemeinsam vorantreiben kann.“
Bevor Koschnick diesen Satz beherzigen konnte, standen aber noch Arbeitsdienst und Kriegsgefangenschaft im Lebenslauf. Nach einer Verwaltungslehre und gewerkschaftlichem Engagement trat Koschnick erst nach seiner Ausbildung in die SPD ein. Im Alter von 34 Jahren wurde er jüngster Landesminister der Republik und war von 1967 bis 1985 erster Bürgermeister des kleinsten Bundeslandes. Auf der Bonner Bühne in der Zeit der SPD-geführten Regierung positioniert er sich selbst in der Reihenfolge „Brandt – Schmidt – Wehner – Koschnick“.
Wenn sein Interviewer Schmidt-Degenhard von großer und den Niederungen der Bremer Politik spricht, kann Koschnick unwirsch werden. Solche Differenzierungen läßt „Bremens bekanntester und bester Botschafter“, so der amtierende Bürgermeister Henning Scherf (SPD), nicht gelten. Bei heiklen diplomatischen Einsätzen wie der Israel-Reise direkt nach dem PLO-Attentat bei der Olympiade 1972 in München trat er auch als Bremer Politiker auf. Und wie bei der Begründung der ersten westdeutsch-polnischen Städtepartnerschaft Bremen-Danzig hatte die Aussöhnungspolitik zugleich eine bundes- und regionalpolitische Dimension.
Doch was bewegt einen wie Koschnick, der ankündigt, niemals eine Autobiographie schreiben zu wollen, weil ihn die Verklärungen anderer AutobiographInnen oft amüsiert hätten? Koschnick, der sich erst im Alter von 35 Jahren hat taufen lassen, stellt soziale Motive neben christliche. Obwohl er beklagt, daß die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nicht mehr so deutlich Position bezieht wie in den Denkschriften der 50er und 60er Jahre, scheint sein Bekenntnis klarer als früher hervorzutreten. Wer wie er drei Anschläge in Mostar überlebt hat, der gewinnt Gewißheit von einer Schutzkraft, sagt er.
Schmidt-Degenhard, der nicht durch kritisches Nachhaken auffällt und seinem Partner auch relativ wenig Oral history oder Anekdoten eines Augen- und Ohrenzeugen entlockt, gliedert das Gespräch in fünf Abschnitte. Nach einem biographischen Kapitel folgen Fragen nach den Mostar-Erfahrungen, nach Koschnicks Einschätzung zur Europapolitik sowie nach seiner politischen Ethik und nach Visionen. Überschneidungen sind aber so unvermeidbar wie gewollt.
Koschnick ist klug genug, Fehler einzuräumen. Bei den Bremer Straßenbahnunruhen 1968 habe er von Dialog geredet und dann doch auf die Polizei vertraut. Die Verhängung der Berufsverbote in den 70er Jahren stuft er als Überreaktion ein. Auch die frühere Fixiertheit der Bremer Politik auf die Großindustrie war seiner Ansicht nach falsch. Schmidt-Degenhard fragt da nicht nach – schließlich richtet sich das Buch nicht nur an Bremer LeserInnen.
Dafür tritt ein anderes Motiv zutage. Koschnick, der sich zu seinem Lebenshunger bekennt und offen eingesteht, daß „seine Leber“ in der Politik eine wichtige Rolle spielte, läßt eine Wut im Bauch durchschimmern. Den Einfluß der Politik auf die Wirtschaft hält er für marginal und stimmt Schmidt-Degenhards Beschreibung „Erpreßbarkeit der Politik – oder: von der Diktatur der globalen Wirtschaft“ ausdrücklich zu. Seit dem Kollaps der Sowjetunion ist nach Koschnick auch das westdeutsche Nachkriegsmodell gefährdet. Mehrfach nennt er den Begriff vom „value of the share holders“, also die Profitmaximierung, und gebraucht ihn – schon bitter – als Menetekel. Etwas modisch bekennt er sich zum Kommunitarismus des US-Soziologen Amitai Etzioni und hält das Schreckensszenario von Seite 166 für realistisch. Es sei denn, jemand hört auf seine Antwort: „Laßt uns Bündnispartner in der Gesellschaft finden, die die gleichen Gefahren sehen.“ Christoph Köster
Meinhard Schmidt-Degenhard (Hrsg.): „Hans Koschnick, Von der Macht der Moral“, Pendo-Verlag München/Zürich, 1998, 28 Mark
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