Baikal und Balalaika

■ Bücher zwischen Ost- und West-Vektoren

Seitdem immer mehr Ostberliner ihr geistiges Eigentum zum Trödler tragen, haben sich die Westberliner Märkte für gebrauchte Bücher gründlich verändert – und zwar positiv: Neben all den bunten US- bzw. BRD-Bestsellern machen sich zunehmend russische Autoren in intelligent edierten DDR- Ausgaben breit. Nicht selten stehen noch Widmungen darin: „Beste Wünsche von Deiner Brigade“ oder „Gratulation zum bestandenen NVA-Offiziersexamen“.

Die Preise sind niedrig: An den Bücherständen in den Treptower Trödelhallen bekommt man drei gebundene „Klassiker“ für eine Mark. Westdeutsche Antiquare decken sich dort kistenweise ein. Das führt zu „Preiserholungen“ – von Ost nach West: Bei einem Buchhändler in Hannover z. B. kosten Ausgaben, die in den Berliner Antiquariaten für fünf bis zehn Mark verkauft werden, dreißig bis fünfzig Mark.

Rund zwanzig Läden bieten inzwischen ihre Bücher übers Internet an. Neulich schloß sich ihnen der Anarcho-Antiquar in der Oranienstraße 45 an. Früher waren viele Antiquare und Trödelhändler in Westberlin relativ unbedarft – die „Nachlässe“ dagegen noch ziemlich hochkarätig. So daß es während der Studentenbewegung etlichen Linken gelang, „wahre Schätze“ zu entdecken, die sie gegebenenfalls teuer wiederverkauften. Auch die alten Raubdrucker fanden noch in den Buchgrabbelkisten manchen Stoff. (Die jetzigen haben es eher auf „Reprints“ von Althusser und Negri abgesehen als auf russische Originale.)

Ansonsten wundert man sich immer wieder, wie schnell die linken Westbücher-Konjunkturen seit den 70ern im Ramsch enden. Manche sind sogar noch verschweißt. Dagegen behaupten sich die alten Russen in langen Wellen. Für ihre Fans ist der Untergang der Sowjetunion einschließlich DDR ein wahrer Segen. Die jetzigen Antiquare sind aber auf der Höhe ihres Angebots. Die im Prenzlauer Berg wirken alle irgendwie „überqualifiziert“ – das schlägt sich in ihren Preisen nieder. Auch im Westen stehen etliche Antiquare – aus der Studentenbewegung hervorgegangen – derart im Stoff und kennen zudem ihren Markt so gut, daß sie nur wenige, reiche Sammler mit Erstausgaben beliefern.

Trotzki hatte einmal in seiner Biographie kurz seine Flucht aus der zaristischen Verbannung erwähnt. Zur Macht gekommen und damit zum Bestsellerautor geworden, koppelte er seine „Flucht aus Sibirien“ schnell aus und machte daraus eine „Long Version“, die – mit einem avantgardistischen Cover von John Heartfield versehen – als Single-Text auf den deutschen Markt kam. Das zwanzigseitige Heft kostet heute 300 Mark. Mir würde eine Fotokopie reichen. Beim Büchertrödeln treffe ich immer öfter auf Gleichgesinnte – und man hilft sich untereinander: So besorgte mir der eine Vera Figner in Rostock und der andere Victor Serge in Stuttgart – für nahezu umsonst. Übrigens kann man die Aufgeblasenheit von Serge erst richtig ermessen, wenn man die „Erinnerungen“ von Figner gelesen hat. Dieses Sammelgebiet ist auch und vor allem ein Feld zur (moralischen) Sammlung – und das ist „ein weites Land“ (Gerd Ruge). Insofern man dabei auf immer neue Literaturhinweise stößt, wobei nicht selten der eine den anderen relativiert – entwertet gar.

Das Heldenepos des Stalinpreisträgers Ashajew z.B. – über eine Komsomol-Baustelle in Sibirien, „Fern von Moskau“, das derzeit zu Hunderten die Gebrauchtbücher-Regale verstopft – „entlarvt“ Solschenizyn in seinem „Ersten Kreis der Hölle“ als völlig verlogenen Roman über ein Zwangsarbeitslager in Sibirien, „vielleicht sogar von einem Sicherheitsoffizier geschrieben“. Auch Solschenizyns eigene „Entlarvung“ – als hochbezahlter US-Agent, mit eigenem Fahrstuhl in seiner Datsche – durch den MfS- Schreiber Harry Thürk: „Der Gaukler“ – findet man heute dutzendfach beim Trödler. Einer, aus dem Osten, verriet mir, als Thürks Buch erschien, hätten sich sogar diejenigen seiner Freunde, die in der Partei waren, deswegen geschämt.

Im Westen landete andererseits auch Solschenizyn reihenweise im Antiquariat – fast immer ungelesen. Und die meisten Bemerkungen über seine Bücher sind dementsprechend wenig kenntnisreich – er sei „religiös, rechts, chauvinistisch“ und zudem ein „schlechter Künstler“. Im Osten traute man sich erst nach der sogenannten Wende an die sowjetische „Lagerliteratur“ heran, zuvor wurden jedoch laufend üppig ausgestattete Lagerberichte aus der vorrevolutionären Zeit veröffentlicht. Im Westen war es eher umgekehrt.

Manches war sich aber auch vorher schon ähnlich geworden – so z.B. die Sibirienreiseberichte des westdeutschen DKP- Vorständlers Peter Schütt, „Ab nach Sibirien“, und des ostdeutschen Journalisten Landolf Scherzer, „Nahaufnahmen“. Beide Bücher enden merkwürdigerweise mit einem Gespräch zwischen dem Autor und einem Baikal-Fisch. Es wird damit auf die damals gerade vom „Fischfreund Breschnew“ (P. Schütt) verfügte ökologische Rettung des Baikal-Sees angespielt. Geholfen hat diese konzertierte Ost-West-Aufklärung indes wenig: Noch immer begründet der Westberliner Essayist Wolf- Jobst Siedler seine Aus-dem- Osten-nichts-Gutes-für-Berlin- Botschaften mit dem Hinweis auf den völlig verschmutzten Baikal-See. Dabei liegt eine Verwechslung mit dem Aral- See in Usbekistan vor. In einer ZDF-Seniorenquizsendung ließ Carolin Reiber sogar den Namen „Balalaika-See“ durchgehen – als Heimat des stets gutgelaunten Chors der Wodka-Kulaken?! Helmut Höge