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„Immer irgendwie zurechtgekommen“

Seit Jahren kämpft eine Hamburgerin mit der Stadt um jede Mark für ihre behinderte Tochter und verbringt ewige Stunden auf Behördenfluren  ■ Von Lisa Schönemann

„Am Ende bin ich immer die Doofe.“ Die Erzieherin Karin Meininger kämpft seit Jahren mit der Stadt um jede Mark für ihre heute fünfzehnjährige Tochter Katharina. Dabei zieht sie regelmäßig den kürzeren. In diesem Sommer ist die Bilanz besonders kraß ausgefallen: Statt 2800 Mark wie noch im vorigen Jahr bekommt die berufstätige Mutter 1998 für die Ferienbetreuung ihrer behinderten Tochter von der Pflegekasse nur noch 1300 Mark.

Dabei paßt die Rolle der Verliererin gar nicht zu der Frau mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck und der kräftigen Stimme. Bislang ist die Alleinerziehende „immer irgendwie zurechtgekommen“, wie sie selbst sagt. Auf dem Küchentisch der Mietwohnung in Barmbek liegt noch der Einkauf: Toastbrot, eine Dose Erbsen, eine Flasche Apfelsaft. Katharina hat sich gerade gegen die kichernden Gestalten der Vorabendserie im Fernsehen entschieden und stellt die Musik in ihrem Zimmer auf volle Lautstärke. Die Nachbarn haben sich offenbar an die Backstreet Boys gewöhnt.

Karin Meininger arbeitet 30 Stunden in der Woche in einem städtischen Kindertagesheim in Barmbek. Ihr Sohn macht gerade eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann. Katharina fährt jeden Tag mit dem Schulbus in eine Schule für geistig Behinderte in Rahlstedt. Der Monatsverdienst der Kindergärtnerin (2800 Mark) muß für alle drei reichen. „Die elende Rennerei hinter den staatlichen Zuschüssen her macht mürbe“, sagt die berufstätige Mutter, die viele Stunden auf Behördenfluren zugebracht hat. Dann fügt sie hinzu: „Die meisten Eltern geben ihre behinderten Kinder irgendwann ins Heim, weil sie es nicht mehr gewuppt kriegen – weder finanziell noch kräftemäßig.“

Katharina wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Sie kann nur langsam laufen, ihre intellektuellen Möglichkeiten sind begrenzt. Unbeaufsichtigt ist sie hilflos wie ein Kind. In den Schulferien, die Karin Meininger mit ihrem Urlaub nicht abdecken kann, kümmert sich eine Schülerin der Erzieherfachschule um Katharina. Die Betreuerin, die sie nach langem Suchen gefunden hat, übt mit der Behinderten nach der Schule und in den Ferien Einkaufen und Busfahren, begleitet Katharina in den Park oder ins Schwimmbad. „Keine leichte Arbeit“, unterstreicht Karin Meininger, denn „Powerfrau Katharina“, wisse genau, was sie wolle. Bislang ist die Pflegekasse für den größten Teil der Kosten aufgekommen.

Im Frühsommer hat die Alleinerziehende ihren Antrag auf „Finanzierung der Verhinderungspflege“ bei der Krankenversicherung eingereicht, die auch für Leistungen aus der Pflegekasse zuständig ist. Diesmal gab es eine böse Überraschung: Der entsprechende Paragraph im elften Sozialgesetzbuch (SGB) wurde zu Katharinas Ungunsten geändert. Die engagierte Erzieherfachschülerin wird von der Pflegekasse nicht mehr als geeignete Kraft anerkannt, weil sie nicht bei einem Pflegedienst beschäftigt ist. Meiningers bekamen weniger als die Hälfte der bisherigen Summe ausgezahlt.

Die Änderung des Paragraphen 39 im SGB 11 sieht vor, daß der Betrag von 2800 Mark für die Ersatzpflege bei Abwesenheit der Pflegeperson nur erstattet wird, wenn sie tatsächlich von einem Pflegedienst geleistet wird. Andernfalls gibt es je nach Pflegestufe (dem Grad der Pflegebedürftigkeit) 400, 800 oder 1300 Mark. Im Notfall soll das Sozialamt einspringen.

Karin Meininger kann die Argumentation des Gesetzgebers nicht nachvollziehen. „Es kommt doch niemand vom ambulanten Pflegedienst und spielt stundenlang mit Katharina, das ist doch absurd“, schimpft die Kindergärtnerin. „Das Sozialamt und die Pflegekasse schieben die Entscheidung, wer zahlen muß, hin und her. Da blickt kein Mensch durch.“ Jörg Bodanowitz, Sprecher der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) in Hamburg, gibt ihr recht: „Wer Glück hat, findet einen Sachbearbeiter, der einen Bescheid erläutern kann. Aber meistens können die das nicht erklären und schon gar keine Tips geben, wie man sich beim Sozialamt verhält.“

„Ich kann wieder den Zahlemann machen“, so der Kommentar der Kindergärtnerin. Andernfalls müßte sie den Stundenlohn von Katharinas Betreuerin in unzumutbarer Weise senken. Die private Betreuung ist die einzige Möglichkeit. Es gibt weder einen Hort noch eine vergleichbare Einrichtung, in die behinderte Kinder nach der Schule oder in den Ferien gehen können. „In Hamburg ist es ja so: Alle setzen auf Integration, aber es darf nichts kosten.“ Auf die hanseatische Sozialpolitik ist die Erzieherin nicht gut zu sprechen.

Tatsächlich hat sich die Sozialverwaltung dazu durchgerungen, für Katharinas Betreuung in den Ferien einen zusätzlichen Bedarf von 882 Mark auszurechnen. Gleichzeitig kam eine Mitteilung, daß der Eigenanteil der Familie in diesem Fall bei 721 Mark liege. „Die haben mir tatsächlich 161 Mark überwiesen“, der Alleinerziehenden hat es regelrecht die Sprache verschlagen. „Ich hab' den Eindruck, die lassen mir nur noch die Miete und ein bißchen was zum Leben.“ Die Idee, Katharina mit einem Behindertenverband auf eine Jugendreise zu schicken, hat sich damit auch erledigt: Dafür müßte Karin Meininger bei ihrem Einkommen 990 Mark aufbringen, hat der Verein „Leben mit Behinderung“ der entsetzen Frau vorgerechnet. Für ihre Tochter wäre es eine Chance gewesen, ein bißchen selbständig und mit anderen gehandicapten Jugendlichen unterwegs zu sein.

Karin Meiniger will nicht aufgeben. Ihr nächstes Ziel: In einigen Jahren kann Katharina mit gleichaltrigen Behinderten in eine Wohngruppe ziehen. Was der Staat für einen Platz in einer Behinderten-WG an Eingliederungshilfe zuschießt, wird nicht ausreichen. Die Erzieherin muß praktisch jetzt anfangen, dafür zu sparen. Und sich noch weiter einschränken. „Wenn meine Freunde ausgehen, fragen sie schon lang nicht mehr, ob ich mit will, weil sie genau wissen, daß ich mir das nicht leisten kann.“

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