: Politisches Erdbeben nach Gladbeck
■ Das Geiseldrama jährt sich zum zehnten Mal / Bremens Innensenator Bernd Meyer (SPD) mußte darum zurücktreten
Dienstag, 16. August 1988: Vermummt und mit Maschinenpistolen bewaffnet dringen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski kurz vor acht Uhr in die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck-Rentfort ein. Sie nehmen zwei Bankangestellte als Geiseln und fordern einen schnellen Fluchtwagen und 300.000 Mark Lösegeld. Sie schießen mehrfach auf Polizisten, die die Bank inzwischen umstellt haben. Einem Rundfunksender geben sie telefonisch das erste Interview. Um 20.45 Uhr – ein nur mit einer Badehose bekleideter Polizist hat das Lösegeld übergeben – fahren die Gangster mit ihren Geiseln im Fluchtwagen und mindestens 420.000 Mark ab. Noch in Gladbeck steigt Rösners Freundin Marion Löblich zu.
Mittwoch, 17. August: Die Geiselnehmer haben über die Autobahn Bremen erreicht. Eine dreiste Aktion – unter anderem erpressen sie einen neuen Fluchtwagen – folgt der anderen. Kurz nach 19 Uhr kapern sie in Bremen-Huckelriede einen Linienbus. Kaltblütig stehen Rösner und Degowski der Presse Rede und Antwort. Mit 27 Geiseln an Bord fahren sie auf die Autobahn bis zur Raststätte Grundbergsee. Dort lassen sie die zwei Bankangestellten frei. Als die Polizei Marion Löblich vorübergehend festhält, erschießt Degowski den 15jährigen Emanuele de Georgi. Der Bus nimmt jetzt Kurs auf Holland. Bei der Verfolgung verunglückt ein Polizist tödlich.
Donnerstag, 18. August: Gegen 2.30 Uhr rollt der Bus über die Grenze. Wieder fallen Schüsse. Der Busfahrer und Löblich werden verletzt. Die Täter erpressen ein neues Fluchtauto und setzen gegen 7 Uhr mit den beiden Bremer Geiseln Silke Bischoff und Ines Voitele die Fahrt fort. Sie kehren ins Rheinland zurück, wo sie in Köln erneut mit Journalisten sprechen. Gegen 12 Uhr brausen die Gangster auf der Autobahn Richtung Frankfurt davon, ein Journalist ist ein Stück mitgefahren und hat ihnen den Weg gewiesen. Gegen 13.50 Uhr greift ein Spezialkommando der Polizei auf der Autobahn 3 bei Bad Honnef mit Waffengewalt ein. Silke Bischoff stirbt durch eine Kugel. Rösner verbüßt heute eine lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung, verhängt im März 1991 vom Landgericht Essen, in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Geldern am Niederrhein. Degowski sitzt – zu Lebenslänglich verurteilt - in der JVA Werl (Westfalen) ein. Marion Löblich, sie bekam neun Jahre Haft, ist inzwischen wieder frei.
Die 54 Stunden führten nicht nur zu einem politischen Erdbeben, in dessen Folge in Bremen und Düsseldorf Untersuchungsausschüsse tagten und der Bremer Innensenator Bernd Meyer (SPD) wegen polizeilicher Fehler zurücktrat. In den Redaktionen der Medien entbrannte eine heftige Diskussion über Grenzen journalistischer Berichterstattungspflicht. Die Polizeibehörden unterzogen ihre Einsatzpläne einer Revision. Zumindest in einem späteren, vergleichsweise glimpflich verlaufenen Fall – der 42stündigen Irrfahrt zweier Ausbrecher Ende Oktober 1994 – konnten Behörden und Medien bilanzieren, man habe aus dem Gladbecker Geiseldrama gelernt. dpa
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