: Lizenz zum Töten?
Ist ein Arzt, der um Sterbehilfe gebeten wird, Retter in der Not? Oder schlicht jemand, der seine Arbeit nicht anständig getan hat? Dessen Patient Schmerzen und Angst erleidet, sich einsam fühlt? Die Ärzteschaft ist sich längst nicht so einig in der Frage des Tötens auf Verlangen, wie der Entwurf der Bundesärztekammer es erscheinen lassen mag. Ein Essay ■ von Linus S. Geisler
Der 89jährige, selbst Arzt, von Schlaganfällen gezeichnet, fast blind, erleidet zuletzt noch einen Herzinfarkt. Auf der Intensivstation bittet er um ein „menschliches Sterben“ und um Beendigung der Maximaltherapie. Aber das Programm läuft unaufhaltsam. Statt ausreichender Schmerzbekämpfung wird noch zwanzig Minuten vor Eintritt des Todes die angeordnete Krankengymnastik durchgeführt.
Hier wurde offensichtlich jenes gnadenlose Zuviel zelebriert, das besonders in der Intensivmedizin und Krebstherapie zur Hochblüte gedeiht. Die Kehrseite dieses Technofetischismus ist regelhaft jenes unbarmherzige Zuwenig an menschlicher Zuwendung und ärztlicher Präsenz: Viel Technik und wenig Arzt.
Das andere Szenario: Seine erste Krebsoperation überstand der Patient mit Gleichmut. „Man wird sich eine Weile mit den Mitteln der modernen Medizin wehren“, schrieb der 66jährige Sigmund Freud, „und sich dann der Mahnung von Bernard Shaw erinnern: Don't try to live forever, you will not succeed.“ Siebzehn Jahre später und nach dreißig weiteren Eingriffen bittet er seinen Hausarzt und Freund Max Schur im September 1939, ihn „nicht im Stich zu lassen“. Schur versetzte Freud mit Morphin in einen Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachte.
Ist dies der Arzt als Freund, den viele sich wünschen und die wenigsten am Ende zur Seite haben?
Die schwierigsten ethischen Probleme der Medizin tauchen am Anfang und am Ende des Lebens auf, in jenen Übergangsphasen, in die die Medizin heute in unerhörter Weise einzugreifen imstande ist. Orientierung im Umgang mit Sterben und Sterbenden ist dringend geboten, aber schwieriger denn je. „Terror der Humanität“, eben noch erlaubte Sterbehilfe und nüchtern vollzogene Sterbenachhilfe stehen in Konkurrenz.
Der steigenden Machtfülle der Medizin auf der einen Seite steht ein ausuferndes Selbstbestimmungsbedürfnis gegenüber, gepaart mit diffusen Ängsten und schwindendem Vertrauen. Die Menschen trauen den Naturwissenschaften Grenzenloses zu, aber sie vertrauen ihnen nicht. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund eines mechanistischen Menschenbildes. In gottähnlichem Omnipotenzgehabe, das Leben beliebig reparieren und manipulieren zu können, wird Ehrfurcht vor dem Leben zum nostalgischen Störfaktor.
Wer den Illusionen der Unsterblichkeit und eines leidfreien Daseins, genährt durch die Visionen einer zu jedem Eingriff ins Erbgut bereiten Gentechnologie erlegen ist, dem wird schwerlich ein gelassenes Sterben gelingen. Ein zügiges Ende erscheint als einzige Alternative, gleichgültig wie und durch wen herbeigeführt – den Arzt eingeschlossen. Schmerzlos, lautlos, professionell.
Die Legalisierungsversuche immer weiterreichender Eingriffe in menschliches Sterben erscheinen so nahezu folgerichtig. Die Pervertierung ursprünglich ethisch durchaus akzeptabler Begriffe wie Sterbehilfe – solange damit ein fürsorgliches Zulassen des Sterbens gemeint war – folgt einem in Diktaturen erfolgreich geübten Prinzip: die möglichst unbemerkte Neubesetzung von Begriffen als eines der wirksamsten Machtmittel. Die Sprache der Bioethik ist ein Paradebeispiel dieser Methode. So nennt sich immer noch Sterbehilfe, wenn nach den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften bei komatösen Patienten – die noch Jahre leben können – die Wasser- und Nahrungszufuhr entzogen werden darf. Die Methode des Verhungern- und Verdurstenlassens Schwerstkranker und Sterbender, verschleiert von einem fadenscheinigen Deckmantel der Humanität, dekuvriert sich bei ungetrübter Sicht schlichtweg als Barbarei.
Worüber Patienten auf Intensivstationen neben Schmerzen und Atemnot am häufigsten klagen, ist quälender Durst. Wer in einem Patiententestament auf alle lebenserhaltenden Maßnahmen verzichtet oder als Angehöriger dafür plädiert, sollte bedenken, daß die Helfer dann tatenlos dem Verdursten des Sterbenden zusehen werden. Nicht einmal jene Hand, die selbst den Gekreuzigten in biblischer Zeit den essiggetränkten Schwamm als letzte Linderung in den Mund schob, wird sich erheben.
Was Sterbende empfinden, entzieht sich der wissenschaftlichen Prüfung. Wer jahrzehntelang auf Intensivstationen Sterbende betreut hat, ist zutiefst überzeugt, daß in ihnen alles andere als das Nichts herrscht. Wer immer wieder erlebt hat, wie Wachkomapatienten anfallsartig alle Anzeichen von Angst und Panik aufweisen können, tut sich schwer, an ein pflanzliches Dahindämmern und innere Leere zu glauben. So ergibt sich die absurde Situation, daß Menschen in den reichsten und den ärmsten Landen der Erde an der gleichen Ursache sterben: an Durst und Hunger. Die einen, weil ihre Gesellschaft ihnen dies als letzten Dienst zugedacht hat, die anderen, weil weltweite Hilfsmaßnahmen versagen. Mit einer Art bioethischem Weichmachereffekt wird die Hemmschwelle zwischen Zulassen des Sterbens und gezielter Tötung Sterbender drastisch abgesenkt. Aber genau an dieser Stelle verläuft eine präzise ethische Grenzlinie: hier der ärztliche Auftrag mitfühlender und kompetenter Begleiter des Patienten zu sein, der bei lindernden Maßnahmen ohne Absicht in Kauf nimmt, daß dem unaufhaltsam versickernden Leben ein geringerer Widerstand entgegengesetzt wird – dort der zur aktiven Tötung von Kranken bereite Arzt.
Das Kriterium des „bewußten und unbewußten Lebens“ in der Urteilsbegründung zur Sterbehilfe des Frankfurter Oberlandesgerichtes führt unausweichlich in ein Wertesystem, das menschliches Leben erster und zweiter Klasse unterscheidet, mit unterschiedlichem Anrecht auf Schutz und Menschenwürde. Man wird lebhaft an die Argumente in der Hirntoddebatte erinnert. Auch dort wurde zwischen Personen und Menschen ohne den Status des Personseins unterschieden, nämlich den Hirntoten; ungestraft konnten sie dann als leere Hülle oder rechtlich herrenloses Gut bezeichnet werden.
Ebenso fragwürdig ist das Operieren mit juristisch nicht eindeutig definierten Begriffen wie „mutmaßlicher Wille“. Am Sterbebett können sie zu tödlichen Mutmaßungen werden. Bei keinem Kollektiv ist größere Hellhörigkeit vonnöten als bei der Gruppe der „Einwilligungsunfähigen“, diesem unseligen Sammeltopf der Hilf- und Wehrlosen aller Art. Ihre Schutzbedürftigkeit kann nicht hoch genug angesetzt werden.
Was heute nur Recht auf aktive Tötung im Sterben ist, kann morgen schon zur Pflicht werden. Der Schäfer in der Lessingschen Fabel vom alten Wolf, welcher versprach, nur tote Schafe zu fressen, durchschaute das uralte Prinzip: Schon morgen, hielt er dem gierigen Tier entgegen, wirst du kranke Schafe für tot und gesunde für krank halten.
Wer noch den Überblick über die ständig neuen Richtlinien und Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe behalten will, tut gut, sich von gesunder Skepsis leiten zu lassen. Ansonsten könnte ihm ein Entwurf wie dieser kaum noch auffallen: „Wer an einer unheilbaren, sich oder andere stark belästigenden oder sicher zum Tode führenden Krankheit leidet, kann auf sein ausdrückliches Verlangen mit Genehmigung eines besonders ermächtigten Arztes Sterbehilfe durch einen Arzt erhalten...“ (Paragraph 1 des NS-Sterbehilfe-Gesetz-Entwurfes von 1940).
Die Grenzen zwischen Leben, Sterben und Tod sind seit jeher unscharf, und die moderne Medizin neigt dazu, sie noch stärker zu verwischen. Handlungsspielräume werden in diesen Grenzbereichen durch Einschaltung von Gerichten vielleicht juristisch besser abgesichert, ob sie dem Patientenwohl dienen, ist mehr als zweifelhaft. Es ist fraglich, ob sich Vormundschaftsrichtern tiefere Einblicke in die Patientenseele enthüllen als dem erfahrenen Arzt. Jeder selbstkritische Arzt kommt mit der Zeit zu der Erkenntnis, daß das Innere des Menschen allenfalls fragmentarisch zu erforschen ist. Dies alles mahnt dringend zu größter Behutsamkeit anstatt zu rigorosem Aktionismus.
Patiententestamente müssen unsichere Aussagen über einen Vorgang bleiben, auf den nur gedanklich Vorgriffe möglich (und nötig) sind. Eine Vorwegnahme des Sterbeerlebnisses ist allenfalls Mystikern nach jahrzehntelanger meditativer Versenkung möglich. Im Sterben sind wir Gewöhnliche allemal Anfänger. So müssen die Ergebnisse von Patientenbefragungen je nach Zeitpunkt logischerweise widersprüchlich ausfallen. 84 Prozent der erwachsenen Amerikaner würden auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten, wenn es keine Hoffnung auf Genesung gibt (Gallup-Umfrage 1991). Nach einer kanadischen Studie an zweihundert terminal erkrankten Patienten äußerten hingegen nur 8,5 Prozent den ernsthaften Wunsch zu sterben, wobei dieser am engsten mit depressiven Symptomen korrelierte – was die Wichtigkeit einer wirksamen antidepressiven Therapie unterstreicht. Erfahrene Kliniker wissen, daß es immer wieder Patienten gibt, die bei klarem Bewußtsein selbst innerhalb weniger Tage vor ihrem Tode ihre Einstellung zu lebenserhaltenden Maßnahmen sprunghaft ändern.
Noch vager sind die Einschätzungen der Angehörigen über den Lebenswillen eines Erkrankten. In ihrer Botenfunktion für den Patientenwillen sind sie meist überfordert und begreiflicherweise nicht immer unparteiisch. Die neueste Wende im Frankfurter Sterbehilfeprozeß wirft ein Licht auf diese Problematik. Oft neigen sie dazu, ihre eigene Belastungsgrenze als Maßstab für den Patienten zu nehmen. Hier können Welten auseinanderklaffen. „Alle weinen“, sagte eine meiner krebskranken Patientinnen kurz vor ihrem Tode, „nur ich nicht.“
Dies alles unterstreicht die Notwendigkeit, in jedem Fall sorgfältigst individuell zu entscheiden. In praxi läuft dies letztlich auf die einsame Entscheidung des Arztes hinaus. Sie hat ebensowenig Unfehlbarkeitsanspruch wie alle anderen Optionen, entspringt aber immer noch der größeren Nähe zum Kranken.
Auch Ärzte sprechen mit gespaltener Zunge, je nachdem ob es um Sterbehilfe bei ihren Patienten oder ihnen selbst geht. Während neunzig Prozent von ihnen im Fall einer aussichtslosen Erkrankung für sich selbst alle intensivmedizinischen Maßnahmen ablehnten, waren sie bei ihren Patienten nur in 57 Prozent für einen Therapieverzicht (Mount Auburn Hospital, Cambridge, Massachusetts). Nach einer neueren Studie aus den USA würden 56 Prozent der Ärzte den physician assisted suicide befürworten und 22 Prozent sowohl an einer Beihilfe zum Suizid als auch an einer Euthanasie teilnehmen, schreibt das New England Journal of Medicine. Alarmierend erscheint, daß von den nicht zu aktiver Sterbehilfe bereiten Ärzte, viele einverstanden waren, ihre Patienten an Ärzte zu überweisen, die Beihilfe zur Selbsttötung oder aktive Tötung auf Verlangen praktizieren. Hier taucht das Gespenst einer Zwei-Gruppen-Ärzteschaft auf: die einen, bereit bis zum äußersten um das Leben eines Patienten zu kämpfen, die anderen versehen mit der Lizenz zum Töten.
Was wirklich gefragt ist, sind nicht immer neue Richtlinien zur Sterbehilfe, sondern die Rückbesinnung auf einfache Fragen, die zu eindeutigen Antworten führen. Was fürchten Menschen im Sterben? Erfahrene Sterbebegleiter geben die Antwort: weniger den Tod als seine Umstände, nämlich Schmerzen, Einsamkeit und Persönlichkeitsverlust. Was wünschen sich Sterbende: nicht die Hinrichtung durch die Hand eines Arztes, sondern jemanden, der ihnen in der Kälte moderner Gesundheitsfabriken zuhört, ihnen ihre Schmerzen nimmt, sich in ihr Sterben einfühlt und keine Scham empfindet, ihre Hand zu halten. Hier liegt im übrigen eines der dringlichen Ausbildungsziele für Ärzte, damit sie nicht wie taubstumm mit ihren Kranken umgehen.
Cecily Saunders, Gründerin des St. Christophers Hospice in London bringt die Problematik auf den Punkt: „Wenn einer unserer Patienten um Sterbehilfe bittet, bedeutet das, daß wir unsere Arbeit nicht gut genug gemacht haben.“
Natürlich weiß auch ich nach vierzig Jahren klinischer Medizin nicht, wie ich mich im Sterben verhalten werde. Sicher bin ich mir heute nur, daß der letzte Arzt, dem ich in die Augen sehen möchte, nicht ein Henker in Weiß sein sollte.
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