: Von den Mühen, einen Staat aufzubauen
■ Bassam Abu Scharif war während der Verhandlungen von Oslo Sprecher Arafats und zählt zu den Beratern des palästinensischen Präsidenten. Abu Scharifs Kritik richtet sich nicht nur gegen Israel und die USA
taz: Im Mai nächsten Jahres soll der palästinensische Staat proklamiert werden. Was versprechen Sie sich davon?
Bassam Abu Scharif: Der palästinensische Staat wurde bereits im November 1988 ausgerufen. Im Mai 1999 hätte dieser Akt eine andere Bedeutung und sollte als Übereinkunft zwischen Israel und uns geschehen. Gleichwohl mag das auch eine Form sein, der Haltung Netanjahus entgegenzutreten, die darauf abzielt, den Friedensprozeß zu zerstören. Ich glaube, die Proklamation sollte erfolgen. Und sie wird eine direkte Antwort bei den Europäern finden: die Anerkennung des palästinensischen Staates als Ergebnis ihrer Verpflichtung auf die Oslo-Vereinbarungen.
Netanjahu droht für diesen Fall damit, die Autonomiegebiete zu besetzen und andere Teile zu annektieren.
Es wird ihm die Hölle bescheren, die palästinensischen Städte wieder zu besetzen.
Ist der Friedensprozeß nicht jetzt schon faktisch tot?
Nein, das glaube ich nicht, auch wenn der Friedensprozeß gegenwärtig stagniert und Netanjahu seine expansionistischen Ideen durchsetzt. Aber das hat nichts mit Ideologie und Religion zu tun, sondern entspringt der Absicht, aus der Besetzung fremden Landes maximalen Profit zu ziehen. Israel gewinnt aus der Besatzung pro Jahr rund 14 Milliarden Dollar.
Auch die Arbeitspartei hält an den Siedlungen fest. Große Siedlungen, wie Maale Adumim, Ariel oder Beit El, wird auch sie nicht aufgeben. In Oslo wurde diese Frage gänzlich ausgeklammert.
Es gibt zwei zentrale Punkte, die laut Oslo-Abkommen den Schlußverhandlungen vorbehalten sind: die Siedlungen und Jerusalem. Wenn Israel die Interimabkommen erfüllen und die drei Teilrückzüge durchführen würde, könnten wir über eine Lösung reden. Ich glaube, die meisten Siedler werden dann hinter die grüne Linie zurückgehen und die Orte den Palästinensern übergeben, bis auf die Siedlungen um Jerusalem. Die stellen ein kompliziertes Problem dar.
Die Stimmung unter den Palästinensern ist nicht gerade gut, und die Unterstützung für die Oslo-Abkommen schwindet. Wie sollte die Führung reagieren?
Die Autonomiebehörde macht die israelische Regierung für die Stagnation verantwortlich. Und natürlich die US-Regierung, weil sie die Situation so beläßt, wie sie ist. Sie üben keinen Druck auf Netanjahu aus, machen nicht einmal ihren Vorschlag zur Weiterführung des Friedensprozesses öffentlich. – Nebenbei ist die Haltung der US-Regierung eine Zumutung für die Europäer, die am Fortgang des Prozesses interessiert sind.
Die Stagnation stärkt die islamische Organisation Hamas. Ist das nicht eine Bedrohung für die Autonomiebehörde?
Die Palästinenser sind wegen der israelischen und der amerikanischen Haltung im Friedensprozeß frustriert. Beide haben ihre Verpflichtungen nicht erfüllt. Wenn das so bleibt, wird es eine Explosion geben. Dann können wir Hamas und die Extremisten vergessen. Die Leute werden explodieren, weil die Lage politisch und wirtschaftlich untragbar geworden ist.
Aber die Frustration unter den Palästinensern bezieht sich auch auf die eigene Regierung, angesichts von Mißwirtschaft und Korruption.
Der Bericht über das Ausmaß der Korruption war übertrieben. Aber das heißt nicht, daß es keine Fehler in der Verwaltung gab. Arafat hätte die Angeschuldigten vor Gericht bringen müssen. Das hätte den Feinden des palästinensischen Volkes nicht erlaubt, die Sache auszunutzen.
Aber ist nicht Arafats Methode gerade die, die über Jahrzehnte auch von der PLO betrieben wurde?
Das stimmt, aber es heißt nicht, daß ich mit dieser Methode einverstanden bin. Die Palästinenser verdienen eine Verwaltung, die Verantwortung trägt, Rechenschaft ablegt und durchschaubar ist. Die jetzige Regierung löst keine Probleme, sie schafft vielmehr neue. Zusätzliche Minister zu ernennen, ist keine Lösung. Wir brauchen keine dreißig Minister. Ich fordere Neuwahlen und eine Regierung von Fachleuten, die fähig sind, die Infrastruktur eines Staates aufzubauen. Es könnte ein kleines „Küchenkabinett“ von Ministern geben, die sich mit den politischen Fragen, den Verhandlungen mit Israel befassen, aber die Mehrheit der Minister sollten Fachleute sein.
Mit der Absegnung des neuen Kabinetts, einschließlich aller Minister, deren Entlassung es vorher forderte, hat Ihr Parlament doch seine Reputation verloren.
Deswegen fordere ich ja Neuwahlen. Wir brauchen eine klare Trennung zwischen der Exekutive und der Legislative. Wir brauchen ein Parlament, das Minister zur Verantwortung ziehen kann.
Der Präsident hat nicht einmal das Grundgesetz unterschrieben, obwohl es vom Parlament verabschiedet wurde.
Der Präsident zögert, weil Israel seine Teilrückzüge ausgesetzt hat und das Gesetz von daher nur in palästinensischen Teilgebieten, Inseln gleich, gültig wäre. Er will ein zusammenhängendes Gebiet, in dem unsere Gesetze Gültigkeit besitzen.
Oslo-Kritiker monieren, es mangele an Demokratie in der Autonomiebehörde.
Eine Antwort liegt darin, daß all unsere Entscheidungen letztlich von der Zustimmung der Israelis abhängen. Importe, Exporte, unsere persönlichen Bewegungen und Reisen brauchen die Zustimmung des israelischen Geheimdienstes.
Wie konnte ein solches Abkommen unterzeichnet werden, wenn es alles der israelischen Kontrolle unterwirft?
Erst mal bedeutet dieser Zustand, daß die Israelis ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen nicht erfüllt haben. – Was das Grundgesetz betrifft, glaube ich, es sollte und könnte bereits jetzt in den Inseln angewendet werden, in denen wir zwischen der Besatzung leben. Die Leute sollten sich daran gewöhnen, die Angelegenheiten ihres Landes selbst zu regeln.
Es gibt noch die alte Opposition, die Volksfront, die Demokratische Front. Haben die kein Gewicht mehr?
Die meisten dieser Leute arbeiten als Angestellte der Autonomiebehörde, ohne politischen Einfluß. Es gibt eine Regierungsbehörde und eine gewisse Autonomie. Was wir jetzt brauchen, ist eine neue politische Kraft, eine neue Bewegung.
Momentan sieht es eher nach alten Kräften aus: Der ehemalige Chef der politischen Abteilung der PLO, Faruk Kaddumi, kehrt aus Tunis zurück. Kaddumi war strikt gegen die Oslo-Abkommen. Was bewegt ihn zur Rückkehr, sucht Arafat einen Nachfolger?
Nein. – Ich wünsche Arafat ein langes und gesundes Leben. Aber wir müssen auf alles vorbereitet sein. Arafats Nachfolger muß gewählt werden. Selbst als PLO-Chef wurde Arafat vom Exekutivkomitee gewählt. Sollte Kaddumi gewählt werden, okay, warum nicht.
Neben der Autonomiebehörde gibt es noch die Institutionen der PLO, die offensichtlich keine Funktion mehr haben.
Solange die Mehrheit des palästinensischen Volkes außerhalb Palästinas lebt, werden die Institutionen der PLO weiterhin funktionieren. Erst wenn die Besatzung aufhört und der palästinensische Staat existiert, wird es nicht länger doppelte Institutionen geben.
Aber die Flüchtlinge sind im Oslo-Abkommen außen vor gelassen worden, als besondere Verhandlungsmasse gewissermaßen?
Alle Palästinenser haben das Recht auf Rückkehr, entsprechend den UN-Resolutionen. Die Flüchtlinge sind nicht vergessen worden. Ihre Zukunft muß mit Israel und anderen betroffenen Staaten ausgehandelt werden. Es ist zu früh, dazu eine definitive Erklärung abzugeben.
Es scheint vieles vergessen worden zu sein. In den Oslo-Vereinbarungen mußte Israel sich nicht einmal als Besatzungsmacht bezeichnen lassen.
Die Oslo-Vereinbarungen sind meinem Verständnis nach ein Zwischenabkommen. Der Hauptaspekt bestand darin, in fünf Jahren Vertrauen zwischen den Parteien zu schaffen. Jahrzehnte des Krieges und Hasses können nicht von heute auf morgen überwunden werden. Aber es stimmt, wichtige Punkte wurden ausgelassen. Arafat wurden in Oslo große Versprechungen gemacht, die im Vertragstext nicht zum Vorschein kommen.
Die palästinensische Delegation zu den Friedensverhandlungen in Madrid im Herbst 1991 hatte schon eine härtere Verhandlungsposition.
Die Delegation wurde von Arafat ausgewählt und erhielt ihre Anweisungen stets aus Tunis. Das war den Israelis ebenso bekannt wie den Amerikanern. Die Verhandlungsbasis von Madrid war die Parole von Land gegen Frieden. Die gilt immer noch. Zerstört wird sie jetzt von der Netanjahu-Regierung.
Während der Oslo-Verhandlungen war die PLO durch ihre Allianz mit dem Irak geschwächt.
Der Schlag gegen den Irak führte zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse in der Region. Das hat auch die PLO beeinträchtig. Wäre der Irak noch in einer anderen Position gewesen, wären die Ergebnisse von Oslo anders ausgefallen.
Wird sich die strategische Situation in der Region ändern, falls der Iran über weitreichende Trägerraketen, vielleicht sogar Atombomben verfügt?
Pakistan hat eine. Und der Iran wird beschuldigt, eine haben zu wollen. Israel wird demnächst noch verlangen, daß Rußland seine Atomwaffen abgibt. Aber es wird Zeit, daß Israel seine wahre Größe erkennt. Es ist ein kleines Land und nicht „über allem“ (wörtlich in Deutsch) in der Welt.
Israel erfährt derzeit im Südlibanon, daß es nicht unverwundbar ist. Warum ist der Guerillakrieg der Hisbollah soviel erfolgreicher als der der PLO in den siebziger Jahren?
Die Palästinenser stehen an der Seite der Libanesen, sie kämpfen zusammen gegen die Besetzung des Südlibanons.
Das heißt, es gibt keinen Unterschied?
Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe: Die Palästinenser kämpfen an der Seite der Libanesen. Wir waren in den siebziger Jahren nicht weniger effektiv, es war ein anderer Krieg. Die Israelis unterliegen heute politischen Restriktionen, die es damals nicht gab.
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, auf den Wechsel vom Guerrillakämpfer zum Politiker, wie fällt da Ihr Urteil aus?
Meine Wahl lautete von Anfang an: Ich will ein freier Mensch sein. Als ich die Universität beendete, habe ich keinen Moment gezögert, mich jener politischen Linie anzuschließen, die für die Freiheit kämpfte und gegen die Besatzung. Es gab eine Zeit, da war es erforderlich, Waffengewalt und Sprengstoff einzusetzen. Der Wandel ist nicht abrupt, sondern kumulativ. Ich kämpfe jetzt politisch gegen die Besatzung. Aber ich würde, falls nötig, auch wieder mit Waffengewalt kämpfen. Das große Ziel heißt Freiheit, Freiheit für mein Land und Freiheit für die Menschen.
Was ist Ihre Freiheit heute? Landenteignungen, forcierter Siedlungsbau, Häuserzerstörungen, was hat sich geändert? Bleiben Sie geduldig?
Das „Über alles“ der Israelis wird nicht ewig die Oberhand behalten. Auch die Geduld hat eine Grenze. Der Widerstand hat noch einen langen Weg vor sich, und die Mittel sind offen, von politischen zu militärischen Mitteln. Das hängt von der speziellen Situation ab und von der Rolle, die Europa und die USA hier spielen wollen. Ich glaube nicht, daß diese Staaten einen Vulkan im Nahen Osten haben wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen