: Alle sind zuständig, keiner ist verantwortlich
■ Das Weißbuch der EU prognostiziert 1,2 Millionen neuer Arbeitsplätze in Europa
Das im November 1997 veröffentlichte Weißbuch der EU-Kommission über erneuerbare Energien war eine positive Überraschung für die Solarszene – und eine negative für die eingeübten Blockierer dieser Energiealternative. In dem Werk wird vorgerechnet, daß schon bei einer Verdopplung des Beitrags erneuerbarer Energien in der europäischen Energieversorgung bis 2010 rund 1,2 Millionen Arbeitsplätze entstehen könnten – mehr als in jedem anderen Bereich wirtschaftlicher Zukunftsprojektionen.
Vorgeschlagen wird ein Aktionsplan mit der Einführung von einer Million Photovoltaikanlagen, zum Einstieg in die Massenproduktion, die Installation von 10.000 MW Windkraft und ebensoviel Biomasse-Kapazitäten, eine autonome Energieversorgung mit erneuerbaren Energien für 100 europäische Modellgemeinden – und dies alles bis zum Jahr 2010; außerdem eine Europäische Einspeisungsrichtlinie. Dies alles sind Punkte, wie sie 1995 im Europaprogramm von Eurosolar vorgeschlagen und selbst von manchen Umweltorganisationen oder Solarforschungsinstituten als politisch „unrealistisch“ bewertet worden waren. Und dies nun alles in einem offiziellen Handlungsprogramm der EU-Kommission, die sich bisher als wohlfeiler Partner der atomar/fossilen Energiekonzerne profiliert hat. Ohne Zweifel ein programmatischer Durchbruch.
Doch die erste Trübung geschah, als der EU-Ministerrat im Mai das Weißbuch verwässerte: Die bis 2010 anvisierten Ziele machte er zu allgemeinen Orientierungspunkten. Die nächste Trübung ist, daß bisher weder ein Durchführungskonzept und schon gar kein Haushaltsansatz in der Kommission zur Realisierung der selbstgesteckten Ziele vorliegt. Aufgeschreckt vom Weißbuch, liefen die Drähte der Energielobbyisten zu ihren eingespielten Partnern in EU-Kommission und nationalen Regierungen heiß. Von „Betriebsunfall“ ist die Rede, über den man besser nicht mehr reden solle. Selbst Europaparlamentarier, die als der Energiewirtschaft nahestehend gelten, sprechen vom „irgendeinem Papier“, dem es an „Realitätssinn“ fehle. Auch Sympathisanten des Weißbuchs tun sich schwer, den konzeptionellen Schritt von bisherigen Miniprogrammen zu nun endlich größeren Entwürfen nachzuvollziehen, die über das lang gehegte Nischenbewußtsein hinausgehen und nicht mehr mit umständlichen Klein- Klein-Förderprogrammen zu bewältigen sind.
Hinzu kommen zwei interne Schwierigkeiten der EU-Kommission, die die prinzipielle Schwierigkeit von Regierungsorganisationen mit neuartigen Herausforderungen zeigen. Um Geld für neue Programme zu mobilisieren, muß man alte Schwerpunkte opfern. Doch es mangelt an politischer Kraft zum Streichen selbst unsinniger Subventionen. Wenn es gar um erneuerbare Energien geht, sind die in die Korsetts arbeitsteiliger Ressorts gepreßten Verantwortlichen zusätzlich hilflos, denn alle Zuständigkeiten sind angesprochen. Wenn aber alle zuständig sind, fühlt sich keiner verantwortlich, weshalb sich Alternativen im Kreis drehen. Mit dem Weißbuch sollte politisch gearbeitet werden: nicht vergessen, sondern als Druckmittel benutzen. Auf zentrale Entscheidungen allein sollte man nicht bauen. Gesellschaftliche Initiativen sind der Motor der erneuerbaren Energien. Regierungen hinken nur hinterher – was aber, siehe Weißbuch, immer noch besser ist, als stehenzubleiben. Hermann Scheer
Der Autor ist Präsident der Sonnenenergievereinigung Eurosolar.
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