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Der Mehrwert der Lesung

■ Vertragen Texte es, wenn man nebenher feiert? Der 8. „Tunnel über die Spree“ im Berliner Literarischen Colloquium untersuchte den „Trend zum Event“ – mit zwiespältigen Resultaten

Dichterlesungen machen selten glücklich. Der Dichter leidet dabei unter dem erdrückenden Gefühl, etwas komplett Anachronistisches zu tun. Er nippt am Wasserglas, um die existentiellen Zweifel zu befeuchten, und bringt nuschelnd, ohne aufzublicken, Auszüge aus seinem jüngsten Werk zu Gehör. Das aus fünf älteren Damen bestehende Publikum, das ihm schmerzhaft die Marginalität seines Schaffens verdeutlicht, ist dann enttäuscht, weil es sich den Autor ganz anders vorgestellt hatte. Älter. Reifer. Eindrucksvoller. Es döst ein bißchen vor sich hin, um am Ende gekräftigt die Diskussion zu eröffnen: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen? Wann schreiben Sie, wo und warum?

Um solche Prüfungen zu vermeiden, wurde das „Event“ erfunden: Die lange Lyrik-Nacht beispielsweise, bei der 20 Dichter jeweils 10 Minuten lesen, unterbrochen von Musik und vom Gang ans Buffet. Die Lesung im Getreidespeicher oder im Gefängnis, an Originalschauplätzen jedenfalls, damit der Ereignischarakter zunimmt. Bloß: Was wird dabei aus der Literatur? Vertragen Texte womöglich keine Feier? Oder ist es an der Zeit, den ästhetischen Purismus der Nachkriegsära auch aus seinem letzten Schlupfloch, der Dichterlesung, zu vertreiben?

16 AutorInnen trafen sich am Wochenende im Literarischen Colloquium Berlin zum 8. „Tunnel über die Spree“, um über den „Trend zum Event“ nachzudenken. Der „Tunnel“, 1991 als Begegnung zwischen Ost und West installiert, wurde dieses Jahr von fünf Autorinnen organisiert: Brigitte Oleschinski, Christine Eichel, Felicitas Hoppe, Anne Duden und Katja Lange-Müller. Sie sorgten nicht nur für weibliche Überzahl und eine seminarhafte Organisation, sondern auch für die deutliche Verjüngung der Runde, was einen reduzierten Zigarettenkonsum und eine uneitle, angenehme Diskussion mit weniger Dichterdarstellergehabe zur Folge hatte.

Allerdings auch eine gelegentlich erschütternde Naivität in markttechnischen Fragen. Daß Lesungen in erster Linie deshalb abgehalten werden, weil sie Geld einbringen, war eine Wahrheit, die nur sehr zögerlich ans Licht wollte. Sie wäre ja auch an die Einsicht gekoppelt, daß es sich beim Lese- Wesen um eine freundliche Subventionierung der Autorenschaft handelt. Lieber suchte man statt dessen nach dem ästhetisch-emotionalen Mehrwert, wollte die Lesung als fortgesetzte „Arbeit am Text“ und öffentliche Überprüfung des ungeschützten Schreibprozesses gewürdigt wissen.

Daß auch der „Tunnel“ der Autorenförderung dient und mit Geldern des deutschen Literaturfonds und der Stiftung Preußische Seehandlung ermöglicht wird, kränkelte die Debatte ebensowenig an. Das Sein verstellt das Bewußtsein: Gerade die jüngsten Autoren, Julia Franck oder Arno Geiger, beharrten darauf, nur „für sich“ zu schreiben und keineswegs an ein Publikum zu denken. Die Lesung empfinden sie als Zumutung, als Moment der Entfremdung, wo ihnen der eigene Text verdinglicht von Ferne entgegenkommt. Die Rezeption erscheint ihnen als Akt der Enteignung, weil sie aus dem Text etwas Neues, anderes macht, als er ursprünglich war.

Am Anfang des zweitägigen „Tunnels“ stand, als Probe aufs Exempel, eine Trailer-Lesung in alphabetischer Reihenfolge. Text folgte nahtlos auf Text, eine Zufallskette mit ungeahnten Querbezügen, die ihren dramaturgischen Höhepunkt mit dem verspäteten Eintreffen Uwe Kolbes erreichte. Der betrat exakt bei Buchstabe K den Raum und begann sein Gedicht mit der kühnen Zeile: „Ich komme von den Frauen her.“

Schon war ein Event entstanden: Ein Ereignis, in dem Text und Autor integraler Teil eines größeren Zusammenhangs geworden ist, auf das sie keinen Einfluß haben. Der eloquente Burkhard Spinnen sprach gar von einer Re-Auratisierung der Kultur durch das Event. Nach dem Auraverlust der Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit etc. pp. werde heute Einzigartigkeit im Ereignis gesucht. Spinnen verglich das mit großen Kunstausstellungen, wo man zwar jedes einzelne Bild schon kenne, es aber nie wieder in dieser speziellen Kombination mit anderen Werken sehen könne. So verschiebt sich das Auratische vom Werk auf die Inszenierung.

Texte taugen jedoch nur bedingt für solche publikumsträchtige Ereignishaftigkeit, und so sind einige Autoren damit beschäftigt, die Literatur selbst polymedial zum Event aufzurüsten, um verlorene Aufmerksamkeit zurückzuerobern. Werner Fritsch etwa schreibt nicht nur, sondern macht auch Filme und Hörspiele. Die Texte sollen einen Körper, die Worte wieder gesellschaftliche Dimension bekommen, sagt er. Fritsch interessiert sich für die Verwandlung seiner Stoffe, wenn aus der Schrift Bilder oder Töne werden – und führte das mit ein paar Videos vor. Auch der Kölner Autor Norbert Hummelt, der seine Gedichte als „Sprechkonzerte“ mit Saxophon oder Schlagzeugbegleitung vorzutragen pflegt, brachte Videoaufzeichnungen seiner Auftritte mit, die er zusammen mit Marcel Beyer als Drummer absolviert hat. Was dabei entsteht, ist nicht einfach nur vertonter Text oder getrommelte Literatur, sondern ein ganz eigenes Genre, das Literatur nicht ersetzen, aber ergänzen kann. Die Lyrikerin Barbara Köhler berichtete schließlich von Experimenten, Sprache als Installation „in den Raum zu stellen“: etwa als Text auf einer Schaufensterscheibe, der zugleich Ort und Zeit seiner Leser und seine seltsame Existenz reflektiert. Jörg Magenau

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