■ Eine Große Koalition kann den Fundamentalkonflikt um die Atomenergie nur vor sich herschieben – Rot-Grün muß ihn entscheiden: Plädoyer für eine Energiewende
Wer pupst wann auf welchem Sessel? Wenn die virtuellen Kabinettslisten, die allenthalben mit Inbrunst ventiliert werden, die Realität nach dem 27. September zutreffend widerspiegeln, steht eines bereits fest: Angela Merkel bleibt auf ihrem Stuhl, sollte die Union – in welcher Konstellation auch immer – weiter die Hebel im Bund bedienen. Mit der ostdeutschen Quotenfrau könnten sich auch jene Ministerialen zurücklehnen, die die vergangenen vier Jahre damit verbrachten, Machtworte gegen den sicherheitsorientierten Gesetzesvollzug atomkritischer Länderregierungen zu formulieren und von Zeit zu Zeit das Atomgesetz den Vorstellungen der Stromversorger anzupassen. Soviel an die Adresse der Freunde einer Großen Koalition, die derzeit einen merkwürdig inhaltsvergessenen Zulauf erhalten.
Es geht bei dieser Wahl nicht nur um den Ausstieg aus der Atomenergie, vielleicht nicht einmal um ihn zuerst. Es geht auch nicht um einen neuen energiepolitischen Rahmen im traditionell- technokratischen Sinne, sondern viel umfassender um den Einstieg in eine neue Logik der industriellen Produktion, um die Verankerung des Prinzips der Nachhaltigkeit. Das künftige Energiesystem ist dafür Ausgangspunkt und Voraussetzung zugleich. Insofern stimmt Peter Hintzes Parole von der „Richtungswahl“.
Nirgends sonst ist die Notwendigkeit der Richtungsänderung so materiell begründet, so mit Händen greifbar. Die fossilen Brennstoffe Erdöl, Gas und Kohle gehen zur Neige. Doch der jahrzehntelange Streit, wann es soweit sein wird, ist fade geworden. Als neue Grenze des Wachstums haben die Klimawissenschaftler längst die Belastbarkeit der Atmosphäre mit Treibhausgasen ausgemacht. Es wird ungemütlich, lange bevor das fossile Erbe aufgebraucht ist.
Die Energiewende ist kein Reformprojekt für ein oder zwei Legislaturperioden, wie Steuer- oder Rentenreform, sondern ein Generationenprojekt. Jeder Aufschub jetzt erhöht das Risiko schmerzhafter Radikalmaßnahmen später. Das künftige Energiesystem, das sich nach dem fossilen Intermezzo wie in vorindustrieller Zeit auf erneuerbare Quellen stützen wird, bleibt ein ökologisches Konzept. Doch es muß auch beantworten können, wie wir im 21. Jahrhundert leben wollen.
Der Ausstieg aus der Atomenergie ist keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für den Einstieg in eine nachhaltige Energiewirtschaft. Notwendig ist er, weil die dichtbesiedelten Industriegesellschaften nicht permanent am Rande der Katastrophe gefahren werden dürfen.
Wir werden Energie bewußter und effizienter nutzen lernen. Für den Stromsektor heißt das: Vorrang für die kombinierte Umwandlung fossiler Brennstoffe in Strom und Wärme (Kraft-Wärme-Kopplung) als Übergangsstrategie und parallel deren allmähliche Ablösung durch die erneuerbaren Energiequellen Sonne, Wasser, Wind und Biomasse. Beides geht zu Lasten der heute auf Basis von Kohle und Atom betriebenen reinen Strommeiler. Aber auch der Umkehrschluß ist richtig. Ohne einen schrittweisen Verzicht auf Kohle und Atom kommt die Energiewende gar nicht erst in Gang.
Eine Große Koalition schafft, entgegen der ihr vielfach zugeschriebenen Potenz zur Einbindung divergierender Interessen, den Einstieg in dieses Jahrhundertprojekt gerade nicht. Warum? Weil ein Fundamentalkonflikt wie der um die Verantwortbarkeit der Atomenergie weder im Konsens noch per Kompromiß zu lösen ist. Ein bißchen Atomenergie geht auf Dauer ebensowenig wie ein bißchen schwanger. Deshalb ist die energiepolitische Selbstblockade jeder Regierungskonstellation vorprogrammiert, in der die Partner auf beiden Seiten der Barrikade stehen. Noch dazu in annähernd gleicher Stärke. CDU und SPD können die Atomenergiefrage nur vor sich herschieben, wie sie es – als Bund-Länder-Konflikt – seit Tschernobyl tun. Es muß aber endlich entschieden werden.
Die zeitlose grüne Parole „Atomausstieg nur mit uns“ ist heute realitätsträchtiger als noch vor vier Jahren. Nicht weil die Ökopartei potenter geworden wäre, sondern weil der nuklearen Stromerzeugung binnen kurzer Frist nach ihrer gesellschaftlichen auch ihre ökonomische Basis und damit ihre zentrale Legitimation abhanden gekommen ist. Die Nuklearideologen führen Rückzugsgefechte, die Betriebswirtschaftler gewinnen die Oberhand – auch in den Vorstandsetagen der Strom- und Energiekonzerne. Warum, sagt man sich dort, den imageschädigenden Zermürbungskrieg um die Atomenergie immer aufs neue ausfechten, wenn ein gasbefeuertes Heizkraftwerk schnellere Rendite verspricht und eine wohlgesonnene Öffentlichkeit noch dazu?
Eine Bastion würden die Stromherren lieber heute als morgen räumen: die der sinnlos-teuren Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente in Frankreich und England. Der Abschied von der Plutoniumproduktion könnte den Konzernen Milliarden ersparen, das Risiko der Abzweigung von Nuklearsprengstoff reduzieren, die Entsorgungsfrage entschärfen – und einer rot-grünen Regierung einen frühen Erfolg bescheren. Der Preis dafür wäre die Sicherung der nuklearen Entsorgung im Inland, bei einer nur allmählich schrumpfenden Zahl von Meilern. Kein „Sofortausstieg“, aber viel mehr, als jede andere Regierung zustande bringen könnte.
Natürlich muß der Einstieg in den Ausstieg auch die Perspektive konkreter Stillegungsmodalitäten eröffnen. Aber entscheidend ist nicht die Geschwindigkeit des Ausstiegs, entscheidend ist seine Unumkehrbarkeit. Die Stromwirtschaft muß wissen, daß Überwintern bis zum nächsten Regierungswechsel keine gute Strategie ist. Dafür einen realistischen und gerichtsfesten Weg zu finden wird die eigentliche Herausforderung für eine ökosoziale Regierung. Die politische Absicherung dieses Weges kann, wie die Dinge liegen, nur ökonomisch erfolgen. Rot-Grün muß den energiewirtschaftlichen Rahmen so auslegen, daß für neue Atommeiler darin kein Raum mehr sein wird. Vor allem gilt es, Regelungen zu schaffen, die den erneuerbaren Energiequellen und effizienten Technologien auf Dauer Vorrang einräumen.
Erst wenn der politische Wille zur Energiewende unumkehrbar geworden ist, wird sie zum Selbstläufer. Dann werden große und kleine Akteure, freudig oder zähneknirschend, in jedem Fall im wohlverstandenen Eigeninteresse, im neuen Rahmen um die besten Plätze rangeln. Das geht, wenn überhaupt, nur mit Rot-Grün. Gerd Rosenkranz
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