Ökolumne: Sozialistische Weltsicht
■ Die chinesischen Reformen sind den russischen auf jeden Fall überlegen
In acht Monaten jährt sich das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens zum zehnten Mal. Bis dahin wird es Zeit, daß der Westen seine Reaktion auf die chinesischen Ereignisse im Jahr 1989 überdenkt. Denn so moralisch richtig die Verurteilung der militärischen Barbarei gegen die Pekinger Jugend bis heute bleibt, so ökonomisch falsch und voreilig war es, die damals von der Kommunistischen Partei verordnete Reformpause grundsätzlich zu kritisieren.
China hat im Revolutionsjahr 1989 trotz des selbstverschuldeten Dramas auf dem Tiananmen vieles richtig gemacht. Der damalige Reformstopp bremste die Hyperinflation und gab dem Land Zeit, die rasanten Veränderungen der vorausgegangenen Jahre zu verdauen. Dagegen hätte eine konsequente Fortsetzung der damals bereits begonnenen Marktreformen die Institutionen des Staates überbeansprucht und das Land unregierbar gemacht. China wäre vermutlich noch vor Thailand, Indonesien und Rußland zum ersten Opfer der Globalisierung geworden.
Eine positive Bewertung der chinesischen Reformpolitik in den neunziger Jahren drängt sich im Licht der Asienkrise und des Reformdebakels in Rußland geradezu auf. Es muß uns doch zu denken geben, wenn nach zehn Jahren enger Zusammenarbeit aller westlichen Regierungen und Institutionen mit Moskau der russische Reformversuch als gescheitert gilt, während das isolierte China, dem kein Harvard-Professor den Weg weisen durfte, die letzte Aufschwungshoffnung in einer von der Rezession geplagten Region verspricht. Fällt es denn niemandem auf, daß die chinesische Führung unter Jiang Zemin und seinem Wirtschaftszaren Zhu Rongji heute in vielen Ecken der Welt mehr Ansehen genießt als Slick Willy in Washington oder der Säufer in Moskau?
Chinas relativer Erfolg in Zeiten der drohenden Weltwirtschaftskrise beruht auf seiner politischen Beharrlichkeit und wirtschaftlichen Eigenständigkeit. Über das 600-Tage-Programm aus amerikanischer Feder, mit dem Rußland Anfang der neunziger Jahre in die Marktwirtschaft befördert werden sollte, konnte das Pekinger Politbüro seinerzeit nur lachen. Deng Xiaoping war insofern klüger als Michail Gorbatschow. Er mißtraute den sich anbiedernden Kräften der Globalisierung, die China genauso aufrollen wollten wie das übrige Ostasien. Deshalb gibt es in der Volksrepublik bis heute keine ausländischen Banken, die den Namen verdienen. Deshalb dürfen westliche Unternehmen nur dann ihr Geld in China anlegen, wenn sie es in Form fester Kapitalien tun. So ist China für Volkswagen heute ein wichtigerer Markt als Rußland. Doch die Deutsche Bank hat ähnlich wie die großen amerikanischen Investmenthäuser in Peking nur zwanzig Angestellte und in Moskau weit über hundert.
Die Vorsicht der chinesischen Reformer beruht auf einer realistischen Selbsteinschätzung: Man sieht sich als Entwicklungsland. Die Vision einer „sozialistischen Marktwirtschaft“, die Deng der Volksrepublik 1992 auf die Fahnen schrieb, ist nicht auf 600 Tage, sondern auf 50 Jahre angelegt. Bei den einzelnen Entwicklungsschritten läßt man sich Zeit. Eine Börse wird eingeführt, doch nur versuchsweise für ein paar ausgewählte Unternehmen. Die Währung wird konvertibel gemacht, doch zunächst nur für den Warenaustausch. Wie wichtig gerade die Entscheidung war, den Devisenmarkt geschlossen zu halten, zeigte sich beim Verfall der meisten ostasiatischen Währungen und des russischen Rubels. Nur der Yuan ist in Ostasien heute noch stabil.
All das mag nicht reichen. Um 1,2 Milliarden Menschen auf den Lebensstandard in Griechenland zu bringen, müßte die Volksrepublik den Erfolg von zwanzig Jahren Reformpolitik in den nächsten Jahrzehnten noch einmal verdoppeln und verdreifachen. Dazwischen liegen unabschätzbare soziale und ökologische Hürden. Doch es steht dem Westen nicht zu, die Zwischenbilanz geringzuschätzen, und so ist der Vergleich zwischen China und Rußland heute lehrreich.
Russische, nicht rotchinesische Kapitalisten zählen heute zu den reichsten Leuten der Welt. Doch die allgemeinen Entwicklungsperspektiven sind in der Volksrepublik besser als in Rußland. Marktwirtschaft schlechthin ist im kapitalistischen Rußland bereits zum Schimpfwort geworden. Im kommunistischen China aber verspricht sie immer noch eine bessere Zukunft. Georg Blume
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