„Ich bin eine Spielernatur“

Kerstin Raschke kämpft auf verlorenem Posten. Im Wahlkreis Hellersdorf/Marzahn tritt die 39jährige Newcomerin für die SPD als Direktkandidatin gegen PDS-Star Gysi an. Raschke: „Die Kandidatur ist so verrückt, das hat was“  ■ Von Sabine am Orde

Am Samstag morgen um neun ist es noch ruhig an der Marzahner Promenade. Selbst die Sonne hat die Einkaufszone noch nicht erreicht. Trotz des blauen Himmels ist es windig und kalt. Vor der Apotheke kämpfen drei SozialdemokratInnen mit ihrem Stand. Der knallrote Sonnenschirm wackelt, fällt um und weht davon. „Ganz standhaft ist die SPD hier noch nicht“, sagt Kerstin Raschke und lacht. Dann nimmt die kräftige Frau mit der eckigen Brille und dem halblangen braunen Haar einen Stapel Faltblätter von dem kleinen Tisch und geht zielstrebig auf einen verschlafenen Einkäufer zu. „Darf ich ihnen einige Informationen über die SPD geben“, fragt die 39jährige mit einem offenen Lächeln im Gesicht. „Ich bin ihre Kandidatin für den Bundestag.“

Ein leichter Job ist das nicht. Der Wahlkreis Hellersdorf/Marzahn, in dem Raschke für die SPD um das Direktmandat kämpft, ist fest in der Hand der PDS, die hier mit ihrem Spitzenmann Gregor Gysi antritt. Gysi hat in diesem Wahlkreis bei der letzten Bundestagswahl mit 48,9 Prozent eines der vier Direktmandate geholt, die die PDS in das Bonner Parlament bugsierten. Auch bei den Zweitstimmen lag die PDS weit vorn.

Die SPD hat mit Raschke eine Newcomerin ins Rennen geschickt. Zwar ist die Maschinenbauingineurin seit der Wende in der SPD aktiv, ist stellvertretende Kreisvorsitzende in Marzahn und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Aber Erfahrung mit der großen Politik hat sie nicht. Doch die SPD setzt auf die junge Ostfrau, die mit beiden Beinen im Leben steht, offen und natürlich rüberkommt und auf Veranstaltungen nicht glatt drum herum redet, sondern manchmal zugibt, daß sie etwas nicht weiß. „Dieser Anspruch, allwissend zu sein“, sagt Raschke während einer kurzen Wahlkampf-Kaffeepause, „der ist doch absurd.“ Dann zieht sie genüßlich an ihrer Zigarette.

Niemand glaubt ernsthaft an ihren Sieg, doch nach jüngsten Umfragen hat Raschke aufgeholt: Noch zwölf Prozent trennen sie von Gysi-Superstar. Bei den Zweitstimmen führt die SPD sogar. „Als wir den Abstand bei den Erststimmen um zehn Prozent verringert haben, da haben bei uns zum ersten Mal die Sektkorken geknallt“, lacht Raschke.

Doch warum tritt sie überhaupt auf einem so aussichtslosen Posten an? Fühlt sie sich der SPD verplichtet, oder will sie einfach Parteikarriere machen? „Ich bin eine Spielernatur“, antwortet sie. „Diese Kandidatur ist so verrückt, das hat schon was.“ Außerdem habe sie ein Rededuell mit Gysi „unwahrscheinlich gereizt“. Dazu gehört Mut, denn Gysi ist für sein rhetorisches Geschick bekannt. Doch aufeinandergetroffen sind die beiden KandidatInnen bislang nur ein einziges Mal. „Damals hatte ich schon das Flattern“, sagt Raschke, ist aber zufrieden damit, wie sich sich geschlagen hat.

Auch im Straßenwahlkampf schlägt sie sich gut. Raschke läuft endlose Treppenhäuser ab, klingelt an zahlreichen Wohnungstüren. Dann drückt sie den verdutzten WählerInnen SPD-Info-Material in die Hand, stellt sich als Kandidatin vor. „Am Anfang war ich sekptisch, ob wir das machen sollen“, sagt sie, „aber es scheint gut anzukommen.“ Auch an ihrem Stand auf der Marzahner Promenade geht die Kandidatin offensiv auf die PassantInnen zu, lockt Kinder mit SPD-Bonbons und Luftballons, Erwachsene mit Streichhölzern und Bleistiften – vor allem aber mit ihrer natürlichen, offenen Art.

Raschke hört sich die Sorgen der Leute an, spricht über Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel, ruft auch dem Marzahner, der „niemals wieder Rote an der Macht“ will, oder, eine Stunde später am S-Bahnhof Mahlsdorf, jener Hellersdorferin, die schon die PDS gewählt hat, ein „schönes Wochenende“ nach.

Offen und natürlich, effektiv und kreativ, hartnäckig und zuverlässig sei sie, hört man auch in der SPD-Fraktion. „Es macht außerordentlich viel Spaß, mit ihr zu arbeiten“, lobt der parlamentarische Geschäftsführer Hans-Peter Seitz die Mitarbeiterin für Hochschul-, Sozial und Gesundheitspolitik.

Raschke politisch einzuordenen, ist nicht leicht. Sie ist für RotGrün, findet eine solche Koalition sogar besser als eine SPD-Alleinregierung. Raschke gilt zwar als Linke, doch eine Kandidatin des – westdominierten – linken Donnerstagskreises ist sie nicht. Ihre Nominierung auf dem – immerhin aussichtsreichen – Platz sieben der Landesliste hat auch der Britzer Kreis unterstützt, in dem sich der rechte SPD-Flügel trifft.

Auch Seitz hat sich für Raschkes Kandidatur stark gemacht – und bedauert das inzwischen fast: „Das wäre ein großer Verlust für die Fraktion.“ Doch manche GenossInnen haben ganz andere Schwierigkeiten mit ihrer Kandidatur.

„Von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin ins Abgeordnetenhaus – das wäre ja okay“, weiß sie, „aber in den Bundestag – das ist zu schnell.“ Arbeits- und Frauensenatorin Christine Bergmann sieht das anders. Sie hat Raschkes Kandidatur auf der Landesliste unterstützt: „Weil wir genau diesen Typ junge Frau, die Beruf und Familie vereinbaren und wissen, wie das ist, brauchen in der Politik.“

Kerstin Raschke ist verheiratet und hat zwei Kinder. Auch ihr Mann ist aktiver Sozialdemokrat, er sitzt in der Marzahner Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Zur Zeit sind sie beide wahlkampfgestreßt, was die Kinder nervt. Deshalb muß die Mutter – Wahlkampf hin oder her – vor ihrem heutigen Auftritt beim Seniorennachmittag noch zum Mittagessen nach Hause zurück. „Das habe ich Sarah fest versprochen“, sagt sie. Sarah ist 12. Ihr 14jähriger Bruder nimmt das Engagement der Eltern lockerer. Und wenn sie pendeln müßte zwischen Bonn und Berlin? „Das wäre ja nur für ein Jahr“, winkt die Kandidatin ab.

Seit fünf Jahren lebt die Familie in Marzahn, weil Raschkes Eltern dort ein Haus gebaut haben. Manchmal, „wenn ich abends eine schöne Kneipe suche“, dann sehnt sie sich nach Prenzlauer Berg zurück, wo sie aufgewachsen ist. „In Marzahn wohnt ein anderer Schlag Mensch“, sagt sie und meint damit nicht nur die WählerInnen. Auch ihre ParteifreundInnen können harte Brocken sein. Sich bei ihnen mit neuen Ideen durchzusetzen, falle nicht immer leicht. Zum Beispiel, als sie das „Titanic“-Fieber nutzen wollte, um junge Leute zu erreichen. Damals hat Raschke vor dem Kino Tempotücher verteilt. „Bevor der Tanker untergeht – SPD wählen“ stand darauf. „Ich wollte zeigen, daß Politik auch Spaß machen kann“, meint sie. Und wenn sie das sagt und lacht, nimmt man ihr sogar das ab.