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„Sie sollten sagen, daß das alte System am Ende ist“

■ Der britische Politologe Anthony Barnett über die Zukunft der Labour-Regierung unter Tony Blair

Anthony Barnett ist Kritiker des britischen politischen Systems. Als Mitbegründer der „Charter 88“ tritt er für eine radikale Verfassungsreform ein. Die taz sprach mit ihm am Rande des Jahresparteitags der regierenden Labour-Partei in Blackpool.

taz: Das Hauptaugenmerk der britischen Regierung gilt in der nächsten Zeit dem politischen System – eigene Parlamente für Schottland und Wales, neue Arrangements für Nordirland, Reform des Oberhauses, Überlegungen zu einem neuen Wahlrecht. Ist das ein stimmiges Projekt?

Anthony Barnett: Labour hat eine beachtliche Serie von Verfassungsreformen durchgezogen. Dazu gehören die Unabhängigkeit der Zentralbank und die Kodifizierung der Menschenrechte. Aber die Präsentation dieser Reformen ist merkwürdig. Die Partei sagt: Das alte System ist noch da, die Doktrin der Souveränität des Parlaments ist unverändert, dies sind nur ein paar Modernisierungen. Tatsächlich sind es aber mehr als Modernisierungen. Kodifizierte Grundrechte sind anders als das bisherige Recht. In Schottland findet eine dramatische Bewegung in Richtung Unabhängigkeit statt. Es ist ein Zustand, den ich constitutio interruptus nenne: Einerseits machen sie unglaublich radikale Dinge, aber statt daraus einen Zusammenhang herzustellen, schrecken sie zurück und sagen: Eigentlich gibt es kein Problem.

Was sollten sie sagen?

Sie sollten sagen, daß das alte System am Ende ist, daß wir eine neue Ordnung nach europäischer Art mit geschriebener Verfassung kriegen werden. Aber sie widersetzen sich dem hartnäckig. Ein Beispiel ist das Oberhaus: Sie wollen die Stimmrechte der erblichen Lords abschaffen, aber sie schrecken davor zurück, ein neues Oberhaus zu gründen und die Beziehung zwischen Regierung und Parlament gründlich zu überdenken.

Warum?

Sie haben Angst. Sie sind nicht traditionelle Konservative, sie lieben das alte Regime nicht. Aber Konservative begreifen die Gesamtheit des Systems; sie interessieren sich nicht für das Oberhaus oder das Wahlrecht, sondern für die Beziehungen zwischen den Institutionen und die Dynamik des Wandels. Die Labour-Kultur besteht darin, sich für ein Einzelthema zu interessieren, aber nicht über die Gesamtheit reden zu wollen. Es gibt einen kulturellen Widerstand auf der Linken dagegen, die Systemfrage zu stellen. Es gibt noch einen Faktor: Die Engländer haben sich der Verfassungsfrage noch nicht gestellt, anders als die Schotten, die Waliser oder die Nordiren, wo die Leute wissen, daß es um die nationale Frage und ihre Identität geht. Und ein weiterer Grund: Ein Teil der Blair-Maschine glaubt, daß das Land so wie ein Unternehmen geführt werden soll. Sie glauben nicht an den freien Markt oder an den öffentlichen Dienst, sondern an das Unternehmensmodell: Man dezentralisiert, behält aber die strategische Kontrolle. Das ist nicht demokratisch.

Die Blair-Maschine gerät gerade in innerparteiliche Schwierigkeiten ...

Der Blairismus steckt in einer Krise. Blair weiß nicht, wer er ist; er will jemand sein, der er nicht ist; seine Leute wissen nicht, was sie tun, außer daß sie sich keine Feinde machen wollen. Es ist eine gefährliche Kombination. Zum Beispiel: Ist Blair für oder gegen die Globalisierung? Er hat recht, die Realität der Globalisierung zu analysieren, aber was hält er davon? Er will die Kontrolle haben, also wird überzentralisiert; seine Leute reden von Vertrauen, aber haben selber kein Vertrauen in die Menschen. Es ist eine Art Gleichschaltung eingetreten. Der Angelpunkt der Zukunft dieser Regierung ist jetzt das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und Blair. Das ist potentiell sehr instabil.

Der linke Labour-Flügel erstarkt wieder. Macht das einen Unterschied?

Nein. Es sind die falschen Leute. Auch sie haben nicht die Demokratie im Kopf. Die Proteste sind die Proteste von gestern. Interview: Dominic Johnson

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