piwik no script img

Termine einhalten? Wo steht das?

Drei Stunden lang plauschen im vollen Wartezimmer: Über den großzügigen Umgang von niedergelassenen Medizinern mit der Zeit ihrer Patienten  ■ Von Heike Haarhoff

Auf dem Bürgersteig sieht es aus, als fände hier in den nächsten Minuten die Speisung der Notleidenden statt. Eine lange Schlange humpelnder Menschen an Krücken, gebeugte Alte mit Rückenleiden, kleine Kinder in Spreizhose sowie verschiedene minder schwere Sportunfälle zieht sich vor dem Eingang zur Arztpraxis in einer belebten Hamburger Straße. Behandelt wird hier zwar erst ab acht Uhr, doch gewartet wird ab mindestens halb acht, und zwar jeden Morgen, egal, ob es schneit oder gießt.

„Wenn Sie sich später als halb acht hier postieren, haben Sie keine Chance, überhaupt noch vormittags dranzukommen“, ist die Erfahrung einer Patientin. Wartezeiten von drei Stunden und mehr sind in der Fachpraxis für Orthopädie die Regel. Der Termin, den man oft Wochen im voraus vereinbart hatte, zählt am Behandlungstag bestenfalls auf dem Papier.

Dieser großzügige Umgang mit der Zeit des Patienten ist kein Einzelfall: Zehn Prozent aller Patienten-Beschwerden, die bei der Ärztekammer in Hamburg eingehen, richten sich gegen zu lange Wartezeiten. Warum bloß? Können Ärzte sich das trotz Dienstleistungsgesellschaft und Konkurrenzdruck immer noch leisten? Wieso nehmen kranke Menschen diese zusätzliche Belastung klaglos hin? Und: Was hindert Krankenkassen, Gesundheitspolitiker und Berufsorganisationen der Mediziner daran, sich einzumischen?

„Das ist eine Frage der Organisation“, wirft Vera Kahnert vom Verband der Ersatzkassen (VdAK/AEV) in Hamburg den Ärzten mit vollen Wartezimmern mangelndes Zeitmanagement vor: „Als routinierter Arzt kann man abschätzen, wieviel Zeit man pro Patient braucht.“

Völliger Unsinn, halten zahlreiche Mediziner dagegen. „Es gibt immer wieder Unvorhersehbares – Notfall-Patienten, Telefonate mit Krankenhäusern und Therapieverfahren, die sich aufwendiger als kalkuliert entpuppen und dann den gesamten Zeitplan ins Rutschen bringen“, weist ein pikierter Kassenarzt den Vorwurf zurück, er habe keinen Respekt vor der Zeit anderer Menschen. Im Gegenteil: Beweise denn nicht seine wöchentliche Arbeitszeit von 70 Stunden seine Aufopferungsbereitschaft? Auf die Idee, einen zweiten Kollegen einzustellen, kommt er nicht.

„Zum Teil bin ich enttäuscht über das Anspruchsdenken vieler Patienten, die das Leid ihrer Mitmenschen nicht zur Kenntnis nehmen“ und statt dessen über zu lange Warterei mosern: Auch der Präsident der Hamburger Ärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, schiebt den Schwarzen Peter lieber den Patienten und ihrer vermeintlich mangelnden Sensibilität zu.

„Wenn man wahnsinnig viele Patienten hat, klappt es eben nicht“, erwidert die Hamburger Ärztin Kat-rin Weissenborn kühl. In ihrer Praxis, loben Patienten, gibt es kaum Wartezeiten. „Ich vergebe nur so viele Termine, wie ich auch einhalten kann“, erklärt Weissenborn. Warum schaffen andere das nicht? „Das hat was mit der Einstellung zur Medizin zu tun“, so die Ärztin. Mißverstandener beruflicher Ehrgeiz, Geldgier, Arbeitssucht, die Gründe sind vielschichtig.

Ein anderer, der seine Praxis im Griff hat, ist der Wedeler Zahnarzt Tolis Zola-Kidis. Nach beendeter Behandlung bekommt jeder Patient einen routinemäßigen Kontrolltermin verpaßt – oft mit einjähriger Vorlaufzeit. „So läßt es sich besser planen“, sagt seine Sprechstundenhilfe. Wer akute Schmerzen hat, kommt natürlich sofort dran; allerdings gilt diese Regelung nur für Alt-Patienten. Wer noch nie in der Praxis war, muß teilweise ein halbes Jahr Wartezeit in Kauf nehmen.

Die Praxis, Termine zu vergeben, hat sich inzwischen bei den meisten Ärzten durchgesetzt. Bei anderen muß man früh morgens kleine Zettel mit Nummern ziehen, anhand derer man sich ausrechnen kann, wie lange es sich vor der Untersuchung noch shoppen läßt. Überhaupt keine Termine dagegen vergeben die wenigsten Ärzte. „Dabei wäre das oft ehrlicher“, klagt eine Patientin. So kommt man beim Tierarzt, wo es meistens keine Termine gibt, oft schneller dran als anderswo und wird vor allem um einiges freundlicher behandelt. Kurz: Dort, wo Medizin noch ein knallhartes Konkurrenz-Geschäft ist, in dem man um seine „Kunden“ werben muß, verstehen sich Ärzte als Dienstleister. „Wenn sich die Ärzte selbst ums Geld kümmern müßten, würde das sicher den Wettbewerb anregen“, glaubt auch Vera Kahnert vom Verband der Ersatzkassen. Nur: „Sanktionen verhängen können wir deswegen nicht.“

Das könnte höchstens die Kassenärztliche Vereinigung, die die Vertragsärzte betreut. Doch auch hier scheut man sich vor Rügen. „Der Arzt ist frei in seiner Praxisführung. Es steht nirgendwo geschrieben, daß er Termine einhalten muß“, heißt es dazu patzig aus der Pressestelle. Verzögerungen könnten immer entstehen. Aber sei das vielleicht der Weltuntergang? „Es gibt ja auch Menschen, die sitzen gern mal länger im Wartezimmer, weil sie dann einfach mal jemanden zum Reden haben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen