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Wenn „Mehmet“ Serdar heißt

Er ist in Berlin geboren, aufgewachsen und kriminell geworden, aber wenn er aus dem Gefängnis kommt, muß Serdar Akin in die Türkei. Seine Schwestern wehren sich gegen die Doppelstrafe für nichtdeutsche Straftäter und ihre Familien  ■ Von Vera Gaserow

„Hallo, hier ist Gülay.“ Irgendwann mußte dieser Anruf kommen. Nun also – „hallo, kennst du mich noch?“ – Gülay mit Alarmstufe eins in der Stimme. Wenn Gülay anruft, dann ist etwas mit Serdar, ihrem Bruder. „Er hat gesagt, ich soll ihm eine Reisetasche bringen.“ Sie wollte das nicht. Dem „kleinen“ Bruder eine Reisetasche ins Gefängnis bringen, das hieße aufgeben – und Gülay will kämpfen.

Freitag abend. Ein Neubaublock in Berlin-Kreuzberg. Bei Akin klingeln. Gülay öffnet. Sie sieht schön aus mit den raspelkurzen dunklen Haaren, aber sie hat merklich abgenommen seit unserem letzten Treffen – „ich komm' einfach nicht mehr zum Essen“. „Wirklich, schau mal in den Spiegel“, ruft ihre Schwester von der Couch und stellt sich dann vor: „Guten Tag, ich bin Tülay.“ Gülay und Tülay, den Eltern muß der Gleichklang Spaß gemacht haben. „Gülay nimmt ab, und ich schlinge aus lauter Frust alles rein“, lacht Tülay. „Unter Strom“ stehen sie beide. Manchmal witzeln sie über sich und nennen sich „die hysterischen Schwestern“. Daß das Geschwistersein einmal ihr Leben so dominieren könnte, darauf waren die beiden jungen Frauen, 26 und 23 Jahre alt, nicht vorbereitet.

Gülay und Tülay kämpfen um ihren Bruder und für das eigene Recht, nicht auf immer und ewig eine „Ausländerfamilie“ zu sein. „Einwanderer“, auch das Etikett kann Gülay nicht akzeptieren. „Wir sind hier nicht eingewandert. Wir sind hier geboren.“

Serdar, der Bruder der beiden, heißt nicht „Mehmet“. Er ist nicht 14 Jahre alt, wie der Münchener Junge mit dem Codenamen, den jeder kennt. Serdar ist 24, und er ist kein Serientäter. Ein unspektakulärer „Fall“, einer von vielen. Serdar hat Mist gebaut. Irgendwann ist er seiner alleinerziehenden Mutter entglitten. Eine Kreuzberger Straßenkarriere, Vater Alkoholiker, Spieler und Schläger, Jugendheim, kleine Klaugeschichten, irgendwann auch Drogen – dann das Urteil: „Raub in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung“. Drei Jahre Knast. Serdar hat das als „Zeichen“ gesehen, „voll leid“ tue ihm die Tat, sagt er heute.

„Strafe muß sein“, das sagen auch Gülay und Tülay. Aber nicht solche! Wenn Serdar jetzt seine drei Jahre Knast abgesessen hat, wird man ihn gar nicht erst nach Hause lassen. Man wird ihn ins Flugzeug schaffen und in die Türkei verbannen, Wiedereinreise nach Deutschland verboten für mehrere Jahre. In der Türkei war Serdar bisher nur im Urlaub, als Junge von elf Jahren.

Als die erste Ausweisungsandrohung kam, hatte der Sozialarbeiter im Knast noch beruhigt: „Du bist hier geboren? Kannst dir mit dem Schrieb die Zelle tapezieren. Da passiert nichts.“ Dann wurde im Sommer 1997 das Ausländergesetz geändert. „Ausländische Straftäter“ mit einer Haftstrafe von drei und mehr Jahren werden seitdem zwingend ausgewiesen. Wäre sein Urteil nur einen Monat niedriger ausgefallen, wäre Serdar demnächst frei, so wie jeder deutsche Strafgefangene.

Seit er von seiner drohenden Verbannung weiß, „schnippelt“ Serdar an sich herum. Man hat ihn auf die Psychiatrisch-Neurologische Abteilung des Gefängnisses verlegt. „Paranoide Schizophrenie“ lautet die Diagnose. Suizidgefahr. Wenn der 24jährige in der Türkei aus dem Flugzeug steigt, wird ihn die Militärpolizei zum Dienst abholen. „Beim Militär habe ich wenigstens eine Unterkunft, und vielleicht lerne ich da ja Leute kennen“, hat Serdar beim letzten Besuch im Gefängnis gesagt. Das lakonische Grinsen war ihm dabei etwas schief geraten. „Das steht er nicht durch“, sagen Gülay, Tülay und Zehra Akin, ihre Mutter und dritte Frau im Bunde. Er geht doch kaputt ohne Medikamente, ohne Therapie und ohne Leute zum Reden. Er kennt doch niemanden in der Türkei. Wo soll er wohnen? Wovon soll er leben? Wenn wir wenigstens Geld hätten – sie reden durcheinander, sie keifen sich an, sie umarmen sich, „die Anspannung macht uns fertig“. Jeden Tag kann der Anruf kommen, jeden Tag kann Serdar jetzt entlassen werden; er selbst wird es genauso kurzfristig erfahren wie seine Familie. Und dann ist er weg, auf Jahre weg. Die Sorge macht sie halb krank, die drei Frauen am Wohnzimmertisch in Kreuzberg.

Die Frauen waren immer die Starken in der Familie, sagt Tülay. Zehra Akin war eine kämpferische Mutter. Sie hat sich gegen den prügelnden Ehemann gewehrt, hat sich mit ihren Kindern allein durchgeschlagen, hat die Freiheit ihrer Töchter lautstark gegen die türkischen Nachbarn verteidigt, hat versucht, ein eigenes Leben zu leben. Aber seit der „Sache mit Serdar“ braucht Zehra Akin Beruhigungsspritzen. Manchmal phantasiert sie, von einem Benzinkanister, mit dem sie sich... „Ane! Hör auf damit!“ unterbricht Tülay, die mit dem schnellen Mundwerk und dem Faible für verrückte Klamotten.

Gülay, die Nachdenkliche, die treibende Kraft der Familie, ist „nur noch wütend“. Der Bruder ist straffällig geworden, okay, „aber er ist es in Deutschland geworden. Das Problem einfach abschieben, so leicht kann man sich das nicht machen.“ Tülay sagt, „man kann für eine Tat doch nicht eine ganze Familie bestrafen“. Das deutsche Recht kann. Sogar doppelt und dreifach. Gülay, Tülay und ihre Mutter haben die Strafe bereits in ihr Leben eingeplant. Wenn Serdar ausgewiesen wird, haben sie sich geschworen, werden sie ihn nicht allein lassen. Eine soll immer in der Türkei bei ihm sein, sie wollen sich abwechseln. Sie würden sich ewig Vorwürfe machen, wenn er dort verzweifelte.

Jeder Flug, jeder Tag in einer Pension wird die Akins genausoviel kosten wie andere Touristen – Geld, das sie nicht haben. Dazu würden sie noch ihre Existenz in Berlin gefährden – Gülay müßte ihre Chancen als Raumausstatterin aufstecken, Tülay ihren Job als Erzieherin unterbrechen, Mutter Zehra die ABM-Stelle in einer Wäscheausgabe für Obdachlose an den Nagel hängen. Eine Familienbestrafung, wie sie in keinem Gesetzbuch steht, aber einkalkuliert wird: „Gründe, von einer Abschiebung Ihres Bruders abzusehen“, hat der Petitionsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses jetzt auf eine Eingabe Gülay Akins geantwortet, „liegen nicht vor. Insbesondere kann die Suizidgefährdung nicht als Abschiebehindernis anerkannt werden.“ Eine Behandlung von Serdars psychischer Erkrankung „ist auch in der Türkei möglich und liegt allein im Verantwortungsbereich Ihres Bruders und seiner Familie“.

Anders ausgedrückt: Wenn die Akins sich Sorgen um Serdar machen, können sie ja mit ihm in die Türkei zurückkehren. Zurückkehren – dieses verflixte irreführende, beleidigende Wort, das ihnen offenbar über Generationen anhaftet. Gülay und ihre Schwester sind längst Deutsche, Mutter Zehra kriegt demnächst den Paß mit Adler. Nur Serdar ist auf dem Papier noch Türke. Neulich hat er in der Gefängnisbücherei eines der wenigen türkischen Bücher dort in die Hand genommen. Er hat den Text nicht verstanden. Gülay liest gerade Hermann Hesse. Und Tülay sagt, „dies ist doch mein Land. Dafür hab' ich nicht Rot-Grün gewählt, daß die so was machen.“

Vielleicht kann man ja noch etwas tun. Die Leute „aufrütteln. Es trifft ja auch zig andere.“ Gülay zückt den blauen Schnellhefter mit den Papieren: Briefe an die Europäische Menschenrechtskommission in Genf, an den Petitionsausschuß in Bonn, Korrespondenzen mit einer verwirrend großen Schar Rechtsanwälten. Innenminister Otto Schily müßte längst ein Fax von ihr auf dem Schreibtisch haben, Cem Özdemir auch, die neue Ausländerbeauftragte dito. Auf die meisten Briefe kam bisher keine Antwort.

Vor allem Gülay ist unzähligen Ansprechpartnern persönlich auf die Pelle gerückt. Anwälten – vielleicht kennt doch noch einer eine Paragraphenlücke, Zeitungen – „man muß das doch öffentlich machen“, Abgeordneten – vielleicht hilft noch eine Petition auf humanitärer Ebene, Ausländerbeauftragten – die müßten doch damit Erfahrung haben. „Man rennt von einem zum anderen, schöpft immer mal kurz Hoffnung, und am Ende zucken alle die Achseln.“ Das ganze Gerenne hat nur den einen Tip eingebracht von höchster amtlicher Stelle: „Hat Ihr Bruder denn keine deutsche Freundin, die ihn heiraten könnte?“

Also weitersuchen. Gülay hat von einer Dolmetscherin gehört, Tülay von einer Anwältin, die Mutter von jemandem in irgendeiner Beratungsstelle. Immer häufiger jedoch stoßen sie – unabhängig voneinander – auf die immer gleichen Namen. Der Kreis ist geschlossen, sie haben das Machbare getan. Nur: Gar nichts zu tun wäre noch schlimmer.

„Untätig herumsitzen“, das würden die Schwestern nicht aushalten. Eine Unterschriftenliste vielleicht? 10.000 Unterzeichner würden sie zusammenkriegen, blitzt es kurz in Tülays Augen, in der Uni, im Bekanntenkreis, unter Kollegen, unter Mutters Obdachlosen. Vielleicht hilft es. Wenn schon nicht dem eigenen Bruder, dann anderen. Vielleicht.

Samstag früh, Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Wöchentliche Besuchszeit 30 Minuten. Gülay und Tülay kennen das Einlaßritual. Vier, fünf schwere Eisentore fallen ins Schloß, dann führt ein eingemauertes Gartenidyll zur Psychiatrisch-Neurologischen Abteilung. Ein Resopaltisch im Besucherzimmer, wackelige Stühle. Umarmung. „Mensch, Serdar, wie siehst du aus. Mit Bart!“ Der Bart bleibt dran, „bis in die Türkei“, grinst Serdar. Lachen. Schweigen. „Unmöglich, dieser Bart!“

Zwei Schwestern zupfen an dem „kleinen“ Bruder herum, der sie um einen Kopf überragt. Hände, Haare, alles will noch einmal angefaßt werden für 30 Minuten, „hast einen Pickel auf der Nase“, „krümelst mit dem Tabak“. Wie er in der Türkei zurechtkommen wird? „Man gewöhnt sich an alles“, Serdars Finger vibrieren, seine abendliche Lieblingssendung im SFB würde ihm fehlen. „Wenn Sie bitte zum Ende kommen würden“, sagt die Aufseherin. Abschied. Küßchen. Letztes Ciao hoch zum Zellenfenster und als Beschwörungsformel „bis zum nächsten Mal“. „Wir müssen hoffen, aber wir müssen auch der Realität ins Auge sehen“, sagt Tülay auf dem Heimweg. Gülay hat Serdar die Reisetasche gebracht.

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