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Ein Tusch für die Vernunft

■ Daß es keinen Prozeß gegen Öcalan in Deutschland geben wird, eröffnet Chancen für eine politische Lösung des Konflikts

Die Bundesregierung verzichtet auf einen Auslieferungsantrag für Abdullah Öcalan. Das verdient Beifall. Zwar ist die Begründung denkbar schlecht, weil ihr der Beigeschmack eines Kotaus vor dem PKK-Chef anhaftet. Aber sie erspart vielen Kurden, die Öcalans autoritären Führungsstil und den Personenkult verabscheuen und im Grunde ein Strafverfahren begrüßen würden, die Wahl zwischen Pest und Cholera – sich entweder mit Öcalan zu solidarisieren, um zu verhindern, daß das Verfahren gegen ihn zum Triumphgesang türkischer Kriegszügler gerät, oder aber schweigend ihre politische Unabhängigkeit zu bewahren.

Doch dieses Schweigen würde beinhalten, daß sie unsägliche Vergleiche à la Öcalan = Karadzic in Kauf nehmen, die zugleich die kurdischen Opfer verhöhnen und jede Form von Widerstand als terroristisch denunzieren. Selbst für die Kritiker Öcalans ist es nur schwer verständlich, daß er vor ein Gericht gestellt werden soll, während die Verantwortlichen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungeschoren davonkommen.

Zudem trägt die Entscheidung unausgesprochen auch der Tatsache Rechnung, daß die Bundesrepublik in dem Konflikt nicht unparteiisch ist, da sie die Türkei mit Rüstungs- und Ausbildungshilfe unterstützt hat. So löst dieser Verzicht erst einmal die schier unerträgliche Ambivalenz zwischen Politik und geltenden Rechtsstandards, die ein solches Verfahren mit sich gebracht hätte, zugunsten politischer Handlungsfähigkeit auf. Die in Deutschland lebenden Kurden hoffen nun, daß sich die Bundesregierung für einen Frieden einsetzt. Nur dann hat die Verzichterklärung einen Sinn, ansonsten wäre sie eine Blamage, mit der den Kurden am allerwenigsten geholfen wäre.

Wie kann der Friedensprozeß in Gang gesetzt werden? Welche Rolle sollten Öcalan und die PKK darin spielen?

In dem gefälschten Paß, mit dem Öcalan nach Moskau reiste, nennt er sich selbst „Serokkurd“, „Oberhaupt der Kurden“. Man denkt an „Atatürk“, den türkischen Übervater – nichts weniger als der Sprecher aller Kurden zu sein, beansprucht Öcalan für sich. Die PKK hat, wie die irakisch-kurdische Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Massud Barsani, ihre gesamte Politik am Parteivorsitzenden ausgerichtet. Mit diesem Konzept hat sie eine schlagkräftige Guerilla aufgebaut und in der Türkei eine nationalkurdische politische Bewegung initiiert, mit der sich heute jede Partei, die in den kurdischen Gebieten mitreden will, auseinandersetzen muß.

Öcalan ist es gelungen, traditionelle Werte wie männliche Stärke und moralische Integrität zu repräsentieren. Deshalb wurde er zur Identifikationsfigur über die PKK hinaus: Die Stammeschefs fanden in ihm eine Schlichtungs- und Schutzinstanz vor den Übergriffen von Rivalen, vor allem aber auch vor türkischen Armee-Einheiten und ihren lokalen Verbündeten. Seit sich Öcalan öffentlich zum Islam als eigentlicher Religion der Kurden bekannte, muß auch das sunnitische religiöse Establishment nicht mehr um seinen Einfluß fürchten. Frauen konnten sich der Guerilla anschließen, weil die Männer sicher sein konnten, daß ihr Ansehen dadurch keinen Schaden nimmt. So wurde es gerade Frauen möglich, sich traditionellen Rollenmustern zu entziehen.

Kurzum: Öcalan hat die Frage der kurdischen Identität immer mehr zu einer Parteiangelegenheit gemacht. Die quasireligiöse Rolle, die ihm dabei zuteil wurde, ist aber vor allem ein Ergebnis der unnachgiebigen Haltung der Türkei. Sie ist der Unfähigkeit aller Regierungschefs seit dem Tod Turgut Özals 1993 geschuldet, sich in dieser Frage gegen das übermächtige Militär durchzusetzen. Um der PKK beizukommen, hat die Armee etwa 3.000 kurdische Dörfer zerstört und über zwei Millionen Menschen zur Flucht in die Großstädte gezwungen, wo viele von ihnen ein jämmerliches Dasein fristen. Persönlichkeiten, wie die Trägerin des Aachener Friedenspreises, Leyla Zana, die anstelle von Öcalan in der Lage wären, eine politische Verständigung in die Wege zu leiten, sitzen im Gefängnis. Ist es angesichts dessen nicht zynisch, den Verfolgten vorzuwerfen, daß sie in ihrer Not falschen Propheten folgen?

Obwohl die Türkei den Krieg gegen die PKK praktisch seit zwei Jahren gewonnen hat, gibt es auch nach Öcalans Flucht keine Anzeichen für einen Frieden. Im Gegenteil: Staatlicherseits wird eine Pogromstimmung geschürt, die ihresgleichen selbst im Irak sucht, wo sich das Regime mit dem „Anfal“ getauften Plan zur Vernichtung der Kurden Ende der achtziger Jahre schlimmster Verbrechen schuldig gemacht hat.

Nach der militärischen Niederlage ist Öcalans Flucht nach Italien ein letzter Rettungsversuch, sich doch noch als einziger Sprecher aller Kurden durchzusetzen. Öcalan will sich zum akzeptablen Gesprächspartner für die europäischen Regierungen wandeln.

Der italienische Vorschlag einer internationalen Kurdistankonferenz ist sinnvoll. Allerdings müssen dazu alle, auch die irakisch- kurdischen Parteien eingeladen werden und nicht nur die PKK. Denn die türkischen Militärinvasionen im Norden Iraks wegen der PKK haben maßgeblich zum Scheitern des dortigen Demokratieversuchs beigetragen und den Konflikt zwischen der KDP und der rivalisierenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK) verschärft. Öcalans Weggang aus Damaskus bietet jetzt die Chance für den im Herbst in Washington unter der Schirmherrschaft der US- Regierung vereinbarten Frieden zwischen PUK und KDP.

Allerdings bleibt das Risiko, daß die Türkei die Region mit ihren ständigen Übergriffen weiter destabilisiert. Schlimmstenfalls kann es gar zu einer Einigung zwischen Bagdad und Ankara kommen, die die kurdischen Hoffnungen von einem Tag auf den anderen zunichte macht. Um aber die Türkei doch noch davon zu überzeugen, daß Zugeständnisse an die kurdische Minderheit nicht automatisch den Untergang des Landes bedeuten, ist die Demokratisierung Irakisch-Kurdistans unabdingbar. Sie allein kann derzeit Vorbildcharakter haben. Im Juli 1999 sollen dort erneut Wahlen stattfinden. Ihr Erfolg wird davon abhängen, ob Europa und die USA gewillt sind, der kurdischen Demokratie auf die Füße zu helfen. Das muß auch die PKK akzeptieren. Gleichzeitig gilt es, alle verfügbaren Sanktionen zu ergreifen, um die türkischen Generäle zum Frieden zu zwingen. Ohne europäische und US-Garantien werden Frieden und Demokratie keine Chance haben. Inga Rogg

e Integrität zu repräsentieren. Deshalb wurde er zur Identifikationsfigur über die PKK hinaus:

durchzusetzen. Um der PKK beizukommen, hat die Armee etwa 3.000 kurdis

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