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Fremde Worte auf Papier

Eine unfreiwillige Reise von Lager zu Lager: Soma Morgensterns Romanbericht „Flucht in Frankreich“  ■ Von Stefana Sabin

Soma Morgenstern verließ Wien schon am Tag des österreichischen „Anschlusses“ an Nazideutschland und flüchtete nach Paris, wo er ein Visum in die USA beantragte. Zunächst wohnte er mit seinem Freund Joseph Roth zusammen, der sich lieber in Paris zu Tode trank, als nach New York zu fahren. „Ein Emigrant stirbt keines natürlichen Todes“, gibt Morgenstern die Worte Roths wieder. „Ich fahre nicht nach New York. Ich bleibe hier, in Europa. Und ich trinke weiter. Und ich werde sie alle überleben, diese Seefahrer, diese Affidavit-Bettler, diese Visum-Sammler, diese Quota-Trottel!“ Das geschäftige Treiben der Emigranten in Paris, die sich um ihre Aus- und Einreisevisa sorgten und mit Anträgen von Konsulat zu Konsulat zogen, fand Roth angesichts des „unnatürlichen Todes“ in der Fremde lächerlich.

Morgenstern dagegen durchwanderte den Leidensweg des Emigranten: Als feindlicher Ausländer – er war österreichischer Staatsbürger – wurde er in Paris verhaftet und in mehrere Lager interniert. Zwischendurch galt er auch mal als freundlicher Ausländer – gebürtiger Pole – und wurde freigelassen, so daß er das dringliche Gesuch nach einem Einreisevisum auf dem amerikanischen Konsulat erneuern konnte. Doch immer wieder wurde er verhaftet, bevor er das rettende Papier erhalten konnte. Nach der Niederlage Frankreichs übernahmen deutsche Truppen das bretonische Lager, in dem sich Morgenstern befand, doch bevor die Gestapo eintraf, floh er in die freie Zone, nach Marseille. Von dort gelangte er über Casablanca nach Lissabon und schließlich nach New York.

Die unfreiwillige Wanderung durch Frankreich von Lager zu Lager hielt Morgenstern in einer Art literarischer Reportage fest: Er gründete die Handlung auf reale Ereignisse und Erlebnisse, verlieh diesen aber durch die fiktionale Verfremdung eine allgemeine Dimension. „Flucht in Frankreich“ heißt im Untertitel „Romanbericht“. Damit ist die Mischung von sachlicher Wiedergabe und erzählerischer Rekonstruktion gemeint, die Morgensterns Text bestimmt. Denn einerseits entspricht die Handlung des Romanberichts der individuellen wie der allgemeinen Geschichte, werden also Autobiographien und Zeitgeschehen verwoben, andererseits wird die Lebensgeschichte erzähltechnisch geordnet und in die Zeitgeschichte wirkungsvoll integriert.

Morgenstern benutzt einen Ich- Erzähler, der eine subjektive Deutung gewährleistet und zugleich die ironische Distanz zur Dramatik der Handlung erlaubt. „Ich kaufte mir ein Schreibheft und schrieb“, erklärt der Ich-Erzähler. „Ich kritzelte hin und wieder eine Seite voll. Meine Feder funktionierte. Sie bedeckte das französische Papier mit fremden Worten.“ Die Angabe am Ende des Buchs nennt „Marseille–Casablanca, 1940–1942“ als Entstehungsperiode. Nicht mit dem Happy End der Freiheit, der Einreise in die USA, endet der Romanbericht, sondern mit der Hoffnung auf Freiheit.

Die Darstellung des Grauens ist immer wieder von einer traurig- weisen Ironie durchsetzt, so zum Beispiel, wenn sich die internierten Juden die Verlegung, nicht die Freiheit herbeiwünschen: „Kommen wir hier noch rechtzeitig weg? Oder werden sie uns so lange hier gruppieren, sortieren, inspizieren, recherchieren, kontrollieren und kujonieren, bis die Deutschen kommen und uns massakrieren?“ Oder wenn die Gefangenen ihre Angst über den neuen französischen Innenminister, einen Juden, äußern, denn sie wissen, daß der Minister „den Franzosen wird zeigen wollen, daß er die jüdischen Emigranten noch schlechter behandeln kann als sein Vorgänger, der kein Jude war“.

Die Beschreibung der deutschen Truppen, die das Lager von den bretonischen Soldaten übernehmen, ist geradezu komisch, etwa wenn sich die Deutschen über die unordentlichen Verhältnisse in den französischen Gefängnissen entsetzen. Tragikomisch wird es dagegen, wenn die Gefangenen ermutigt werden, ihren Verwandten zu schreiben, ihnen die Mitteilung aber vorgegeben wird: „Wir waren in einem französischen Konzentrationslager. Heute ist die erste deutsche Kolonne auf ihrem beispiellos siegreichen Vormarsch bis zu uns vorgedrungen. Wir stehen unter dem Schutz der deutschen Wehrmacht. Es geht mir gut.“

Die Ironie unterminiert das Pathos, verwischt aber nie die Eindeutigkeit der moralischen Haltung. „Die Nazis haben mit ihrem Mordgeruch jegliche Schicht des Verkehrs zwischen Mensch und Mensch verdorben. Bleiben diese Raubmörder an der Macht, so werden nicht nur Religionen, Wirtschaftssysteme, die Kunst, die Wissenschaft, die Moral – alle Grundpfeiler der Kultur zusammenbrechen. Es wird die zwingende Not eintreten, alle Formen, ja die Formeln der menschlichen Gesittung aufzugeben.“ Die Schreibhaltung des Ich-Erzählers ist von Anfang an eine moralische: „zur Belehrung und nicht etwa zur Unterhaltung“ werde er seine Erlebnisse festhalten. Aber in seinem geschickten Wechsel zwischen Ernst und Witz, Dramatischem und Komischem gelingt es Morgenstern, zu belehren und zu unterhalten. Im opportunistischen Verhalten der französischen Bevölkerung und der Offiziere, im routinierten Desinteresse der amerikanischen Behörden, im Machtbewußtsein der deutschen Truppen, aber auch im gruppendynamischen Kräftespiel unter den Internierten lokalisiert er psychologische Züge, die allgemeinmenschlich sind.

Daß Leiden und die Angst der Emigration aus allen Menschen Juden machen, scheint Morgenstern suggerieren zu wollen. „Der Verfolgungswahn der Juden, ihre Neigung, alles zu bekritteln, ihren scharfen Witz, ihre Ironie, die sie gegen sich selbst und ihr Schicksal kehren, ihr familiäres Benehmen, ihre Hast. So bin ich im reifen Alter zur Erkenntnis gekommen“, wird ein russischer Fürst zitiert, „daß jene echtjüdischen Eigenschaften gar keine jüdischen Eigenschaften sind. Es sind Eigenschaften von rechtlosen, bedrückten, gehetzten, gedemütigten Menschen. Es sind dies Eigenschaften von Emigranten.“ Und da jeder zum Emigranten werden kann, sind das menschliche Eigenschaften schlechthin.

Soma Morgenstern: „Flucht in Frankreich. Ein Romanbericht“. Verlag zu Klampen, Lüneburg 1998, 430 Seiten, 78 DM

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