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Alptraum mit hundert Spritzen

Der französische Radprofi Richard Virenque wird von seinem Ex-Masseur schwer belastet, streitet aber weiter jegliches Doping ab. Deutsche Läufer im Zwielicht  ■ Von Matti Lieske

Richard Virenque führt einen einsamen Kampf. Als „überwältigend“ bezeichnet Patrick Keil, Ermittlungsrichter in Lyon, die Ergebnisse eines Berichts von Experten über die Dopingpraktiken beim Radsportteam Festina. Mannschaftsdirektor Bruno Roussel hat die systematische Verabreichung von Dopingmitteln längst gestanden, und sieben von neun Fahrern des auf Druck der Rennleitung bei der Tour de France ausgestiegenen Teams räumten ein, unerlaubte Mittel zur Leistungssteigerung angewendet zu haben. Nur Pascal Hervé und Richard Virenque hatten stets jegliches Doping bestritten.

Die Sache ins Rollen gebracht hatte kurz vor Beginn der Tour 1998 die Verhaftung des Festina- Masseurs Willy Voet, der eine Wagenladung illegaler Präparate, darunter jede Menge Ampullen des Blutdopingmittels Erythropoietin (Epo), mit sich führte. Voet nimmt inzwischen kein Blatt mehr vor den Mund. „Er bekam etwa hundert Spritzen Epo im Jahr“, sagt er in einem gestern erschienenen Interview mit der Zeitung France Soir über Virenque, und nicht nur die Mannschaftsführung, sondern auch der Firmenchef des Sponsors, Uhrenhersteller Festina, habe alles gewußt.

Virenque jedoch ist unbeugsam. „Ich bin sicher, das ist das Ende des Alptraums“, sagte der Bergspezialist und Tour-Zweite von 1997, nachdem ihn Patrick Keil mit den Untersuchungsergebnissen der Proben, die sechs Tage nach dem Tour-Ausstieg genommen wurden, konfrontiert hatte. „Alle neun Festina-Fahrer haben Dopingsubstanzen genommen, von Steroiden, Kortikoiden und Wachstumshormonen bis zu Epo, und vier von ihnen nahmen Amphetamine“, hieß es aus Kreisen der Justiz, doch der Einzelnachweis scheint sich schwierig zu gestalten. Unstrittig die Amphetamin-Einnahme bei den Profis Moreau, Hervé, Brochard und Rous, doch schon bei den Kortikoiden können die Experten nicht beweisen, daß sie von Dopingmitteln herrühren.

Virenque jedenfalls nahm die Vorhaltungen des Richters quasi als Freispruch. „Alle biologischen Parameter und Tests beweisen wissenschaftlich, daß ich nicht gedopt bin“, sagt der 29jährige, darüber hinaus liege sein Hämatokritwert unter 50 Prozent. Genau hier sitzt die wissenschaftliche Achillesferse der Affäre, bei der es vor allem um den Gebrauch des in diversen Sportarten hoch im Kurs befindlichen Mittels Epo geht, ein Hormon, das den Sauerstoffgehalt des Blutes und damit die Ausdauer erhöht. Einen sicheren Nachweis gibt es bisher nicht, deshalb legte der Radsportverband einen Hämatokritgrenzwert von 50 Prozent fest. Dieser gibt den Anteil roter Blutkörperchen an, liegt normalerweise bei etwa 43 Prozent, kann aber aus verschiedenen Gründen höher sein. Liegt er deutlich über normal – wie bei Virenque –, ist die Verwendung von Epo äußerst wahrscheinlich, aber eben nicht beweisbar. Deshalb werden Fahrer, die über 50 Prozent liegen, auch nicht gesperrt, sondern wegen gesundheitlicher Risiken für eine gewisse Zeit suspendiert. Bei den Festina-Fahrern lag der Hämatokritwert durchweg nahe an der Grenze, bei Brochard (50,3), Stephens (50,3), Rous (51), Zülle (52,3) und Hervé (52,6) darüber.

Virenque hatte 49,3 Prozent, was ihm deutlich Oberwasser gibt. „Die Experten sagen Dinge, ich sage andere Dinge. Nun müssen wir rausfinden, was wahr ist“, verkündete er forsch und fügte hinzu, wer objektiv sei, müsse einsehen, daß er unschuldig ist. Besonders leicht wird dies jenen Teams fallen, die sich gern seiner Dienste versichern würden, sobald sie gewiß sein können, daß er um jene sechsmonatige Sperre, die geständige Kollegen wie etwa Zülle oder Dufaux erhalten, herumkommt. Eher unwahrscheinlich ist, daß Virenque bei Festina bleibt. Da will ihm Firmenboß Rodriguez nämlich das Gehalt kürzen.

Während Richard Virenque konsequent den einsamen Engel im Sündenpfuhl Festina gibt und unverdrossen seine Reinwaschungskampagne führt, ist die treibende Kraft hinter der französischen Dopingoffensive weiter bestrebt, diese zu intensivieren. Mit ihrer italienischen Kollegin Giovanna Melandri vereinbarte Frankreichs Sportministerin Marie-George Buffet am Dienstag eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen Doping. Noch vor dem Dopinggipfel des IOC im Februar möchten beide ein Treffen aller europäischen Sportminister einberufen, um das staatliche Vorgehen in der Angelegenheit „zu harmonisieren“ (Buffet).

Neuigkeiten gibt es derweil auch aus Deutschland. Bei den vom Verbandsarzt des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Karlheinz Graff, des Epo-Dopings verdächtigten Langstreckenläufern handelt es sich tatsächlich um Europameister Damian Kallabis und seinen Trainer, den EM-Dritten über 10.000 Meter, Stephane Franke. „Wir haben in Budapest das Mittel HES benutzt“, räumte Franke jetzt in einem Interview mit der FAZ ein – ein Präparat, das unter anderem die Fließeigenschaft des Blutes verbessert und daher von Graff als Maskierungsmittel für Epo-Gebrauch eingestuft wurde. Einen solchen Verdacht wies Franke jedoch strikt von sich. „Wir haben zu keinem Zeitpunkt Erythropoietin eingenommen“, erklärte der 34jährige, das nicht auf der Dopingliste stehende Mittel HES sei ihm schon 1995 von Wilfried Kindermann, auch Arzt der deutschen Fußballnationalmannschaft, und vor der EM in Budapest im August vom Freiburger Orthopäden Heinz Birnesser verabreicht worden.

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