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Ein Weg aus der Abseitsfalle

Weil Drogensüchtige nirgends Arbeit finden, müssen sie illegal Geld auftreiben. Ein Nürnberger Projekt bietet Junkies Tagesjobs und damit ihrem Alltag eine Struktur  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Schubladen werden herausgezerrt, Schranktüren fliegen auf, Kisten werden auf den Kopf gestellt. Im Nu ist der Zimmerboden mit Papieren, alten Fotos, Wäschestücken und allerlei Krimskrams übersät. Es sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Statt dessen aber wird hier hart gearbeitet.

Die Entrümpelung der Wohnung eines verstorbenen alleinstehenden Mannes steht auf dem Plan des Tagesjob-Projekts der Nürnberger Drogenhilfe Mudra. Im Einsatz sind Karsten, Roland und Peter*. Unrasiert und in abgetragenen Kleidern sehen die drei nicht gerade vertrauenserweckend aus, aber sie arbeiten mit einer Geschwindigkeit, als wären sie im Akkord. „Wir sind nicht zum Knutschen da, sondern zum Arbeiten“, stellt der 44jährige Karsten klar, streift sich seine Arbeitshandschuhe über und nimmt sich ein Nachttischchen vor.

Karsten wohnt mit zwei Zwerghamstern in der Nürnberger Südstadt und hat eine 25 Jahre dauernde Drogenkarriere hinter sich. Als er Hotelkaufmann lernte, rauchte er noch Marihuana, probierte dann Speed, spritzte später Heroin. Er versuchte, mit geringen und wenigen Dosen auszukommen. „Meine größte Angst war die, süchtig zu werden.“ Anfangs hielt er das durch, doch dann trat er „in die Abseitsfalle“. Der erste Entzug war eine schmerzhafte Erfahrung. „Alle Knochen taten gleichzeitig weh, es verflüssigte sich alles in mir.“ Einige von Karstens Freunde starben, er floh nach Portugal, kehrte wieder zurück – die Heroinabhängigkeit blieb.

Heute nimmt Karsten Polamidon als Heroin-Ersatz. Mit 14 Millilitern pro Tag begann er, inzwischen braucht er täglich einen Milliliter und eine halbe Flasche Cognac. Er verflucht das Polamidon, das ihm Schweißausbrüche bei jeder Gelegenheit verschafft, aber er weiß, daß es ohne nicht geht. Und er verflucht das Arbeitsamt, denn für Drogenabhängige aus der offenen Szene gibt es keine Jobs. Dabei wäre Arbeit wichtig, damit die Abhängigen sich ihr Geld nicht als Kleinkriminelle besorgen und es in ihrem Leben wieder so etwas wie ein Struktur gibt.

Zum Arbeitsamt muß Karsten trotzdem alle drei Monate gehen, um seine mickrige Arbeitslosenhilfe nicht zu gefährden. Jede zusätzliche Mark ist ihm willkommen, vor allem die 12,50 Mark pro Stunde vom Tagesjob-Projekt. Als Arbeitsprojekt für Drogenkonsumenten ist es bundesweit einmalig. Anderswo ist generelle Drogenabstinenz stets Bedingung für die Arbeit. Beim Nürnberger Tagesjob arbeiten zumeist Politoxikomane, also diejenigen, die alles durcheinander schlucken, was nur irgendwie dröhnt. „Ohne den Tagesjob hätte ich schlechte Karten“, sagt Karsten: „Ich wüßte nicht, was ich machen würde.“

Im Jahresschnitt arbeiten knapp 60 Junkies bei dem Projekt, die überwiegende Mehrzahl Männer. Damit erreicht die Drogenhilfe mit dem Phantasienamen „Mudra“ mehr als ein Viertel der 200 Menschen, die zur offenen Szene in Nürnberg zählen. Der Sozialpädagoge Matthias Sell betreut das Projekt seit seinem Beginn vor fünf Jahren. Er gewann den Bezirk Mittelfranken und den Europäischen Sozialfonds als Geldgeber, mußte allerdings immer wieder Vorurteile ausräumen. Wie könnt ihr nur Drogenabhängigen Geld in die Hand geben, die kaufen doch sofort an der nächsten Ecke wieder Drogen, wurde gegen das Projekt argumentiert. „Mir ist lieber, die arbeiten, als daß sie Autos knacken oder Omas die Handtasche klauen“, hat Sell daraufhin entgegnet. Er will durch den Tagesjob die Junkies entkriminalisieren. Sie sind froh, seit vielen Jahren mal wieder einen Muskelkater zu haben. „Für mich ist es wichtig, daß ich mich körperlich fit halte und nicht nur herumhänge, vor der Glotze viereckige Augen bekomme und verblöde“, betont Karsten.

An diesem Tag findet er in der leerstehenden Wohnung einen Fernseher, den er gerne mitnehmen würde. Doch Karsten hat Pech, denn das Gerät strahlt nur grüne Bilder aus. „Der hat wohl zuviel Polizei gesehen“, scherzt er. In seiner „Überraschungstüte“ für zu Hause sind dieses Mal nur ein paar Kabel und Stromsicherungen. Ein anderes Mal sind es ein paar Schmuckstücke, die im Leihhaus mal 50, mal 100 Mark bringen. Manchmal nimmt er aber auch gar nichts mit, wenn es in den Wohnungen zu eklig aussieht.

Mehrmals war Karsten mit dabei, als eine Wohnung leergeräumt werden mußte, in der wochen- oder gar monatelang ein Toter lag. Überall Maden, Fliegen und ein entsetzlicher Geruch, den man „richtig im Gehirn gespürt“ habe. Einer der Tagelöhner war gleich abgehauen, Karsten aber hielt durch. Er sagt: „Das sind eben die Drecksjobs für die Drecksjunkies“.

„Die Klienten erfahren ihre eigene Leistungsfähigkeit, lernen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit und ihren Drogenkonsum zu kontrollieren“, umschreibt Sozialpädagoge Sell die Ziele des Projekts. Drogenkonsum und -handel während der Arbeit sind verboten, Gewalttätigkeit und Diebstahl Grund zur fristlosen Entlassung. „Wir erwarten Ehrlichkeit und wollen den Mechanismen der offenen Szene etwas entgegensetzen“, erklärt Sells Sozialarbeiter-Kollege, Oliver Bodenschatz.

„Das sind Drecksjobs für die Drecksjunkies“

Diese Mechanismen heißen Lügen, Betrügen und Tricksen, und zwar überall, bei der Polizei, beim Arzt, in der Therapie und bei den Kumpels. Das streift man nicht so schnell ab. Aus einem zugeraunzten „Vorsicht, schau halt!“ entsteht da schnell ein Streit, wenn es im Treppenhaus eng ist und ein schweres Sofa geschleppt wird. „Beruhige dich, mach kein Drama“, beschwichtigt jedoch Karsten.

Routiniert wirft der Mann die Wäsche in den einen Korb, das Glas in einen anderen, Holzgegenstände türmt er auf einen Extrahaufen. Alles muß gut sortiert werden. „Sonst machen die uns auf dem Recyclinghof zur Schnecke.“ Immer wieder entdeckt Karsten Neues und hält es für die Kollegen in die Höhe. „Braucht jemand einen Wecker?“ Oder Ballettschuhe? Als dann in einem mit Batman-Aufklebern versehenen Karton ein Pornoheft zum Vorschein kommt, ist das Geschrei groß. Vesperpause, ein Döner für 2,99 Mark, dann geht es weiter.

Mit der Axt wird der Schrank in seine Einzelteile zerlegt, die großen Trümmer müssen nun aufs Auto geladen werden. Es ist später Nachmittag geworden, jeder Gang mit einem zwei Meter langen Schrankteil wird zum Kampf gegen die Tücken des Treppenhauses. „Um die Zeit sind unsere Akkus leer“, sagt Peter und zuckt mit den Achseln.

Wenn die letzte Fuhre zum Recyclinghof gefahren ist, sind auch die Sozialarbeiter froh, denn sie packen genauso mit an wie die Junkies. Wenn die mal wieder ihre Sucht nicht im Griff, Ärger mit der Freundin oder einfach keinen Bock auf den Job haben und um 8.30 Uhr zur Abfahrt mit dem Mudra-eigenen Kleinlaster zum Einsatzort nicht erscheinen, dann bleibt den Sozialpädagogen nichts anderes übrig, als den Auftrag allein durchzuziehen. Über solche Niederlagen trösten sie aber die Erfolge hinweg. Dazu zählt, daß viel schneller als im Streetworkbereich Vertrauensverhältnisse zu den Betroffenen entstehen. Und daß es immer wieder – im letzten Jahr immerhin fünfmal – gelingt, Junkies in Vollzeitarbeit bei anderen Projekten unterzubringen.

Jeder Auftrag widerlegt das Gammlerbild

Etwa 180 Aufträge erledigt das Tagesjob-Projekt im Jahr. Die Aufträge kommen hauptsächlich von den Nürnberger Sozialämtern und der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Der 62jährige Richard Hahn, der auf seinem Kalender die letzten 147 Tage genau markiert, die er noch bis zur Rente hat, betreut als Hausmeister für die Wohnungsgesellschaft im Osten der Stadt 1.150 Wohnungen. Vor vier Jahren kam er auf die Idee, das Tagesjob-Projekt für eine Entrümpelung anzuheuern und ist seitdem vollauf zufrieden. „Die arbeiten sauber, schnell und pünktlich.“ Hahn hat das Tagesjob-Projekt anderen Abteilungen weiterempfohlen mit dem Ergebnis, daß er jetzt schon mal zwei, drei Wochen warten muß, um einen Termin zu bekommen. Jeder erfüllte Auftrag ist für ihn eine Widerlegung der gängigen Meinung, daß „das alles bloß Gammler“ wären.

Während Karsten sich immer wieder wundert, daß das Projekt in anderen Städten wie Berlin oder Frankfurt keine Nachahmer findet, arbeitet die Drogenhilfe Mudra daran, einen Verkauf für die intakten Möbel und die anderen noch gebrauchsfähigen Gegenstände aus Wohnungsauflösungen zu organisieren. Da es an Lagerraum und Fördermitteln fehlt, ist das jedoch noch Zukunftsmusik.

Alltag dagegen ist das Plenum jeden zweiten Freitag im Monat. Wer hier nicht erscheint, vergibt die Chance, in den ersten beiden Wochen eingeteilt zu werden. Beim Plenum werden alle Probleme des vergangenen Monats aufgearbeitet: Streit vor den Augen des Auftraggebers, Konflikte um „Überraschungstüten“, unentschuldigtes Zuspätkommen. Stets entsteht ein Gerangel um die Termine. Zu viele wollen arbeiten, viele würden gerne mehr arbeiten, gerade wenn sie sich mal fit fühlen.

Erst beim Thema Weihnachtsfeier geht es wieder gelassener zu. Jeder hat eine Anregung, viele wollen sich an der Vorbereitung beteiligen. Nur mit dem Glühwein wird es auf der Weihnachtsfeier nichts, denn in den Räumen der Mudra sind Drogen, also auch Alkohol, strikt untersagt. „Dann eben Rum-Aroma“, schlägt Karsten vor – und verzieht das Gesicht.

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