Im Dickicht der Stücke

Das deutschsprachige Drama hat Konjunktur. Es ist jung, zahlreich und dicht am Alltag dran. Schon breitet das Staatstheater beglückt die Arme aus, aber viele Autorinnen und Autoren mißtrauen dem Apparat wie dem Dialog und wollen das ganze Theater selber machen  ■ Von Petra Kohse

Die Figur des Jahres im deutschsprachigen Theater ist der Dramatiker. Nachdem er jahrzehntelang seine in zunehmender Einsamkeit entstandenen Stücke bloß vorwurfsvoll in der Dramaturgie abgegeben hat, wo sie dann Weihnachten und Ostern mal abgestaubt wurden, kniet er jetzt ganz vorn an der Rampe und blinzelt ungläubig ins Scheinwerferlicht. Halb zog man ihn, halb sank er hin – am zeitgenössischen Text hängt, zum zeitgenössischen Text drängt inzwischen alles.

Natürlich ist der deutschsprachige Dramatiker etwa zum Drittel eine Frau. Außerdem ist er eher jung und ganz bestimmt viele. Wo früher mit Strauß-Handke-Müller- Jelinek alles angedeutet war, weiß man jetzt gar nicht, wohin man sich wenden soll. Denn heute geht es nicht mehr so sehr darum, was der Dramatiker zu sagen hat, sondern daß er überhaupt etwas sagen will und sich das Recht nimmt, dies zu tun.

Seit drei, vier Jahren ist in die Spielpläne Bewegung gekommen. Oliver Bukowski, Daniel Call, Klaus Chatten, John von Düffel, Fritz Kater, Anna Langhoff, Dea Loher, Albert Ostermaier, Alexej Schipenko, Simone Schneider gehören, alle so in ihren Dreißigern, bereits zum Betrieb. Und mit der Tendenz weg von der hohen Literatur und hin zum spielbaren Gebrauchstext beginnen Volksstückansätze älterer Dramatiker wie Werner Fritsch oder Kerstin Specht neu zu zählen.

Doch auch Susanne Amatosero, Martin Baucks, Dominik Finkelde, Lutz Hübner, Marius von Mayenburg, Thomas Oberender, Moritz Rinke, Roland Schimmelpfennig, Katharina Tanner, Theresia Walser und Jakob Wurster werden schon an größeren Häusern gespielt. Und mit Nina Achminow, Melanie Gieschen, David Gieselmann, Chris Ohnemus oder Alissa Walser sind etliche weitere Autorinnen und Autoren startbereit.

Die schiere Masse ist überwältigend. Das deutschsprachige Drama also hat Konjunktur, und es gedeiht mit über hundert Uraufführungen in der laufenden Spielzeit nicht nur im Stadt- und Staatstheater, sondern geradezu programmatisch auch außerparlamentarisch. Autorenformationen wie das Berliner Uraufführungstheater unter Mitwirkung von Oliver Bukowski oder das Berliner Netzwerk Theater Neuen Typs (TNT) erobern sich konsequent Räume im Theaterleben der Hauptstadt. Zur bereits fünften szenischen Lesung lud das Uraufführungstheater am Nikolaussonntag gegen Mittag in die Vagantenbühne, zur dritten „Lunatischen Lesung“ nicht ganz zum Vollmondtermin das TNT am Abend ins Renaissance-Theater.

Autorentheater – aber nicht als Asyl

Zwei ums Überleben kämpfende Privattheater werden auf diese Weise auch als mögliche Orte für selbstbestimmtes Autorentheater ausprobiert. Rolf Hochhuths Traum – Begabtere als er könnten ihn wahr machen. Zumal es keineswegs um Asyl für abgeschobene Dramen geht. Im Gegenteil geraten die Texte junger Autoren oft schneller in den Staatsapparat, als man sie in Ruhe lesen kann. Nicht selten steht noch vor der Uraufführung schon eine zweite Inszenierung fest wie im Fall von Marius von Mayenburgs „Feuergesicht“, das in den Münchener Kammerspielen und bald auch im Hamburger Schauspielhaus gezeigt wird, oder Moritz Rinkes Stück „Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte“, das im Januar sofort nach der Stuttgarter Uraufführung in Münster nachgespielt wird. Diese flotte Materialbewegung kommt wohl zum einen durch ein konzeptionelles Vakuum in den Dramaturgien zustande, verursacht durch zunehmende Zweifel an der Sinnhaftigkeit ästhetisch immer weiter verästelte Klassikerinszenierungen.

Zum anderen natürlich durch die schiere Existenz von Stücken, die die poetisch verzärtelte Ich-Sucherei aufgegeben haben und sich statt dessen handfest mit Gegenwart auseinandersetzen. Während man schlecht Gedichtetes schwer ertragen kann, freut man sich über Leute, die Augen im Kopf haben und schreiben können. Und in diesen wirtschaftlich angespannten und sozial isolierten Zeiten voller Informationssplitter, die in kein kohärentes System zu bringen sind, erscheint es immer mehr Autoren offenbar attraktiv, sich ihrer Umwelt dramatisch zu versichern.

Zumal Theater ein verhältnismäßig leicht zugänglicher und überschaubarer Raum ist, in dem sich, anders als im Filmbereich etwa, eigenverantwortlich arbeiten läßt – sofern man auf Mitbestimmung besteht, wie es das Londoner Royal Court Theatre beispielhaft vormacht. Die deutschen Autorenformationen oder auch um Autoren bemühte Theater wie die Berliner Baracke beziehen sich entsprechend gerne auf das Royal Court. Tatsächlich sind die deutschsprachigen Stücke im Durchschnitt zwar spielerischer und formal avancierter als die Dramen des neuen britischen Realismus nach Art von Mark Ravenhill und Sarah Kane, aber ähnlich von Alltag und Politikerfahrung der Schreiber geprägt und dabei ebensowenig ideologisiert wie diese.

Kein Glaube, aber Liebe und Hoffnung

Zumeist ohne eine spezifische Tendenz wird über die 68er-Eltern und die Arbeitswelt geschrieben, über Baustellen und Rechtsradikalismus, Kindesmißbrauch und Asylprobleme, Sozialhilfe und Kunststreben, aber auch über die guten alten Selbstzweifel, Beziehungen und Zukunft – kein Glaube, aber dafür manchmal Liebe und Hoffnung.

Das liest sich mal mehr gewollt als gekonnt, zuweilen stark nach Fernsehen oder sonstwie klischiert, aber oft liest es sich auch okay oder sogar gut und verweist auf einen zwanglosen Realismus, den man sich im Theater augenblicklich gut vorstellen kann. Schließlich ist dies der einzige Kunstort, an dem – ein weiterer Pluspunkt! – Gesellschaft noch in Echtzeit stattfindet. Und das sogar Sonntag mittag im winzigen, schwarzen Guckkastenraum der Vagantenbühne. „Reißen Sie sich doch zusammen“, stieß ein Zuschauer überraschend grob eine Sitzreihennachbarin an, die eingenickt war und ein bißchen schnarchte, während die Schauspielerin Bärbel Röhl gerade „Pawelke“ vortrug, ein Stück der 35jährigen Nina Achminow. Frau Pawelke zuliebe mischten sich die Umsitzenden aber nicht ein.

Frau Pawelke ist die altgediente Bürokraft eines Schmiermittelbetriebes, die gerade von einer Jüngeren verdrängt wird. Sie spricht einen lebensresümierenden Silvestermonolog. Sprunghaft und ein wenig verwirrend, voller Bürokraftklischees und eigentlich mehr Hörspiel als Drama, aber doch auch sprachmächtig irgendwie. Bärbel Röhl sitzt auf einem Stuhl und hat einen Pikkolo neben sich – es handelt sich um eine szenische Lesung, die von K. D. Schmidt „eingerichtet“ wurde, wie das dann heißt. Was bedeutet, daß optisch nichts los ist, aber wenigstens keiner mit dem Buch am Tisch sitzt.

Dramaturgie kann helfen, wenn sie darf

Auch „Ägypter“, das neue Stück der 36jährigen Simone Schneider, das wenige Stunden später im schnuckelig verplüschten Renaissance-Theater vorgestellt wurde, erhielt eine „Einrichtung“, machte mit fünf Schauspielern für sechs Figuren aber schon etwas mehr her, hatte zudem Zwischenmusiken, und Simone Schneider las selbst die Regieanweisungen. „Ägypter“ handelt von Mittdreißigern, die nicht genau wissen, was sie wollen, aber auf keinen Fall das, was sie haben. Von ihren Hins und Hers, ihren Projektionen und Fluchtversuchen und ihrem schließlich einverständlichen Nebeneinanderherleben, das genau betrachtet nicht einmal das schlechteste ist. Ein angenehmes Stück, dramaturgisch wie sprachlich einleuchtend, vielleicht etwas bedeutungshubernd, aber da wird sicher die Dramaturgie helfen. Wenn sie darf. Denn so sehr die neue dramatische Initiativkraft erfreut und der Drang zur Selbstbestimmtheit auch als Akt der Notwehr einleuchtet — der Wunsch, außerhalb des Betriebs zu bleiben, um dem Zugriff von Regie und Dramaturgie zu entgehen, könnte zur Falle werden.

Der ästhetische Diskurs ist entwicklungsfähig

Der Trend ist so: Der 26jährige Berliner Autor David Gieselmann beispielsweise inszeniert seine Stücke konsequent selbst. Als nächstes hat „Das große Bauvorhaben“ im Dramatischen Theater Premiere, einer kleinen Bühne in Berlin-Mitte, die früher Schoko- Laden hieß und sich seit kurzem explizit „dem Text und dem Schauspieler, der diesen Text spricht“, verschrieben hat. Zeichen der Zeit. Auch das Theater Neuen Typs „verfolgt die Idee eines Theaters, dessen Impuls vom Schreiben ausgeht“, und die derzeit noch auf Lesungen beschränkte Arbeit des Uraufführungstheaters „unterscheidet sich vom Regiestil, wie er an Staats- und Stadttheatern gepflegt wird. Der Autor ist in den Entwicklungsprozeß seines Stückes (sic!) voll integriert.“

Das Heimwerkermißtrauen gegen Fremdhilfe in Form der „Regiewölfe“, die hilflose Textchen auf offener Bühne zerfleischen, ist nicht zu überhören. Dabei tut es den meisten Texten nur gut, in einen ästhetischen Dialog mit dem Regisseur und dem Ensemble zu treten und im Zweifelsfall auch einmal argumentativ zu unterliegen. Die nächste Inszenierung kommt bestimmt. Eher jedenfalls, als wenn das Stück in einem jener dürren Aufsagearrangements gezeigt wird, die in London und auch am Royal Court Theatre aus Not oder Notwendigkeit gepflegt werden. Text lernen, Schauspieler gruppieren, Auftritte und Abgänge timen, Plakate kleben – Vorhang auf!

Im vielleicht nicht mehr flächendeckenden, aber noch reichlich subventionierten bundesdeutschen Theaterbetrieb gibt es da doch ganz andere Möglichkeiten und immer mehr Regisseure und Regisseurinnen, die Lust haben auf neue Texte, sich ihre eigene Sprache aber verständlicherweise nicht nehmen lassen wollen. Ende der Neunziger sollte, wer von Autorentheater spricht, von der Autorschaft der Regisseure und Schauspieler nicht absehen. Von den Stoffen her hat das Theater derzeit durchaus das Zeug zum sogenannten Leitmedium der Gesellschaft. Der ästhetische Diskurs aber ist noch entwicklungsfähig.